Aus dem Leben der Gutmenschen - Teil 2
Erst einmal wurden wir alle in einen größeren Raum geführt, in dem wenig später die Pressekonferenz stattfand. Natürlich mit etwas Verspätung, da der Minister zuvor ohne Presse über das Gelände geführt worden war und natürlich verkürzt, da er im Anschluss noch weitere Termine hatte. Als sein Pressesprecher uns das mitteilte, brach unter einigen Kollegen schon leichte Panik aus, schließlich wollten sie alle gerne ein paar exklusive O-Töne des Ministers im Kasten haben.
„Philipp?“, fragte ich nur irritiert. Dass er jetzt Pressesprecher im Innenministerium war, wusste ich nicht, vor ein paar Jahren war er jedenfalls noch einer der jüngsten meiner Dozenten an der Uni gewesen. Somit gab es für die Kollegen der großen Medien die zweite Überraschung als ich nämlich nicht nur so dreist war, um ein paar exklusive Fotos des Ministers mit unseren ehrenamtlichen Helferinnen zu bitten, sondern auch noch als Antwort bekam: „Na okay, ich sehe mal, was ich für dich machen kann.“
In der Konferenz sprach Boris Pistorius dann über die 600 Plätze, die es in der Unterkunft eigentlich gab und über die 850 Menschen, die zu jenem Zeitpunkt im Spätsommer 2014 dort lebten. Doch er verwehrte sich gegen die Aussage, das Boot sei voll und plädierte stattdessen für mehr Geld für die Aufnahme von Flüchtlingen und eine Erweiterung der Aufnahmekapazitäten, um die auf uns zukommenden Engpässe wenigstens einigermaßen in den Griff zu bekommen. Vor allem sollten die Kommunen vom Bund mehr unterstützt werden, da sie diejenigen seien, bei denen sich steigende Flüchtlingszahlen am deutlichsten bemerkbar machen. Dazu müssten dann eben auch ein paar Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht werden.
Damals war Pistorius einer der ersten, zumindest aber einer der entschlossensten Politiker, die so argumentierten. Auf große Resonanz trafen seine Forderungen bekanntermaßen nicht. Heute frage ich mich immer noch, warum die Politik nicht schon viel früher reagiert hat, nicht schon viel früher weitere Flüchtlingsunterkünfte geschaffen hat und vor allem nicht viel mehr in Bewegung setzte, um den Bürokratiestau bei den Asylanträgen und bei den elementaren Voraussetzungen für die Integration in unserem Land abzubauen. Hätte das nicht von Anfang an viel mehr Bereitschaft in der Bevölkerung geschaffen, die Entscheidungen mitzutragen?
Nach der Pressekonferenz machte ich mich jedenfalls schnell auf den Weg zu unserem Basar, wo mittlerweile großer Andrang herrschte. Ich möchte fast sagen, die Kleidung wurde den Damen aus der Hand gerissen, doch das stimmt einfach nicht. Die meisten Menschen aus aller Herren Länder hielten geduldig die Hand auf, lächelten und bedankten sich wortreich in Sprachen, die wir nicht verstanden. Viele von ihnen nahmen die Klamotten genau unter die Lupe, untersuchten, ob sie passten und gaben sie anderen, wenn das nicht der Fall war. Mich rührten vor allem die großen Kinderaugen, die leuchteten, wenn sie Kuscheltiere oder anderes Spielzeug in die Hand gedrückt bekamen.
Minister Pistorius gab währenddessen den Fernsehleuten ein paar schnelle Interviews, dann kam er tatsächlich zu unserem Stand herüber. Und er nahm sich sogar Zeit, einige Worte mit den Damen zu wechseln. Frau B. erzählte von ihrer Erfahrung mit den Asylanträgen und fragte, warum der Staat den Flüchtlingen dafür nicht einen Begleiter zur Seite stellen könne. Leider gebe es dafür kein Geld, antwortete Pistorius sinngemäß, die Flüchtlinge seien grundsätzlich auf sich allein angewiesen. „Deshalb ist es ja so wichtig, dass es ehrenamtliche Helfer wie Sie gibt.“
Vielleicht war es dieser Moment oder vielmehr diese Erkenntnis, die mir zeigte, dass das, was diese Gemeinde oder eben Musiker wie Heinz Ratz taten, keinesfalls ein Selbstzweck war. Vielmehr war es der wichtigste Baustein, um ein programmatisches „Wir schaffen das“ Wirklichkeit werden zu lassen. Selbst wenn der Staat Flüchtlinge aufnimmt und sie damit vor Krieg, Hunger und Verfolgung bewahrt, ist das immer nur der erste Schritt. Der zweite besteht darin, ihnen einen wirklichen Neuanfang zu ermöglichen. Und der kann nur gelingen, wenn zu den offensichtlichen Voraussetzungen auch die weniger sichtbaren hinzukommen.
Die Menschen, die seinerzeit mit Heinz Ratz und seinen Bandkollegen auf der Bühne standen, waren in ihrer Heimat Künstler gewesen. Die Musik hatte ihnen etwas bedeutet, vermutlich mindestens soviel, wie mir das Schreiben bedeutet. Nach ihrer Flucht hatten sie keine Möglichkeit mehr, diese innere Leidenschaft auszuüben, da elementare Dinge einfach vorgingen. Wer sich in einer Unterkunft mit kaputten Fenstern mit dreißig anderen ein Klo teilt, schreibt vermutlich keine poetischen Lieder mehr.
Ich sehe die Musiker immer noch vor mir. Wie sie ganz versunken ihre Musik präsentierten. Wie sie diesen Moment genossen, gemeinsam mit anderen, mit Gleichgesinnten ein Konzert vor richtigem Publikum zu geben. Wie die Musik plötzlich als eine gemeinsame Sprache fungiert und Melodien und Rhythmen gleich welcher Herkunft die Zuhörer zum Mitwippen und später sogar zum Tanzen bringen. Afrikanische Trommelrhythmen von der Elfenbeinküste, Hip Hop aus Nigeria, gefühlvolle Balladen aus dem Iran und gemeinsame Improvisationen ließen vieles vergessen, was uns alle unterscheidet und zeigte mir damals, wie ähnlich wir alle uns doch auf eine Weise sind.
Vielen dieser Menschen drohte damals die Abschiebung und in der Heimat erneute Angst und vielleicht Lebensgefahr. Doch das Konzert auf der Bühne in einem Gasthaussaal mit dem Charme der 60er Jahre im Harz schienen ihre Sorgen für ein paar Stunden in den Hintergrund zu drängen und sich als das zu fühlen, was sie waren. Keine Flüchtlinge, sondern passionierte Musiker.