Eine Frage der Zeit

Shopping Queens - Teil 1

 

Die Worte „Kleidung“, „einkaufen“ und „Kinder“ können sowohl das Smartphone als auch das Bildwörterbuch übersetzen und F.s und D.s heftiges Nicken als Rainer und ich diesen Vorschlag machen, bedarf keiner Übersetzung. Uns ist aufgefallen, dass die Kinder immer kalte Hände haben, kein Wunder bei den dünnen Klamotten, die sie tragen. Zwar habe ich keine Ahnung wie warm syrische Sommer und wie kalt syrische Winter sind, doch dünner Baumwollstoff ist für Deutschland definitiv nicht die richtige Wahl, wenn der Frühlingsanfang mal wieder auf sich warten lässt.

 

Rainer hat beim DRK angerufen und einen Termin für uns ausgemacht. Das muss so sein, denn sonst werden die Helferinnen in der Kleiderkammer mit dem Ansturm nicht fertig und können sich den jeweiligen Familien nicht ausreichend widmen. Kein Problem, sagen wir, morgen um 16 Uhr sind wir da. „Von der Wohnung bis zum DRK laufen wir etwa eine Viertelstunde“, überschlägt Rainer, „also treffen wir uns morgen um kurz nach halb hier.“ D. und F. übersetzen wir „morgen“, schreiben eine 16 auf einen Zettel und malen eine Uhr daneben. Kann eigentlich nichts mehr schief gehen.

 

Von wegen. Als wir am nächsten Tag an der Wohnung ankommen, halten die Kinder gerade ihren Mittagsschlaf, D. steht unter der Dusche und F. hat das Essen auf dem Herd. „Wir müssen uns beeilen, wir haben in der Kleiderkammer nur eine halbe Stunde Zeit“, lässt sich leider nicht so einfach übersetzen, „deutsche Pünktlichkeit“ ebenso wenig.

 

 

Erst ein paar Tage später erfahren wir, dass in der arabischen Welt die 12-Stunden-Darstellung wie in englischsprachigen Ländern üblich ist, sie also mit 16 Uhr völlig überfordert waren und nicht wussten, wann wir sie abholen wollten. Ebenso sollten wir später noch lernen, dass dort der persische Kalender gilt und sie sich auch an unseren gregorianischen erst mühsam gewöhnen müssen. Leider sind all das Konventionen, die wir als selbstverständlich ansehen, und über die wir im Umgang mit anderen Kulturen einfach nicht nachdenken. Ehrlich gesagt ging es mir in der Zeit nach der Wende ähnlich, wenn Freunde aus der ehemaligen DDR sich plötzlich um „Viertel acht“ mit mir treffen wollten, was 19.15 Uhr bedeutete und leider erst dann logisch war, wenn sie es mir erklärt hatten.

 

Wie auch immer, wir schaffen es schließlich doch irgendwie, uns auf den Weg zum DRK zu machen. Vor allem die Kinder genießen den Ausflug sichtlich. Logisch, S. ist fünf, A. ist drei und der kleine M. zwei Jahre alt. Dass Kinder in diesem Alter alles entdecken wollen, neugierig sind und Neues begierig in sich aufsaugen, ist wohl weltweit gleich.

 

Für Passanten mussten wir ein sonderbares Bild abgeben. F. hatte den kleinen M. auf dem Arm, D., Rainer und ich hatten die beiden Mädchen zwischen uns an die Hände genommen und zogen sie nun alle paar Schritte für einen großen Sprung in die Höhe, was beide sichtlich und hörbar genossen. Mir ging es nicht anders, ich stellte gerade fest, dass Helfen tatsächlich Glücksgefühle hervorruft. Vor allem, wenn die Sonne zum ersten Mal richtig Kraft hat und helles Kinderlachen den Verkehrslärm übertönt.

 

 

Fast schade, dass wir schon da sind, denke ich als wir beim DRK ankommen. Die Mädchen sehen das allerdings ganz anders. Als die Helferinnen ihnen einige bonbonfarbene Klamotten vor die Nase halten, wähnen sie sich im Shoppingparadies und können ihr Glück kaum fassen. M. ist es relativ egal, dass F. ihm immer wieder Pullover und Hosen anhält, er interessiert sich viel mehr für das Spielzeug, dass es in einer Ecke ebenfalls gibt.

 

Ich selber bin erstaunt, welche Masse und vor allem welche Auswahl an Kleidung es hier gibt. Die Spendenbereitschaft der Osteroder ist offenbar noch immer so groß wie zu jener ersten Aktion des Pastorenehepaars B. Nach dem Basar in Braunschweig haben sie übrigens noch einen weiteren im eigenen Gemeindehaus angeboten, zu dem unglaublich viele Flüchtlingsfamilien aus der Stadt und dem Umland gekommen waren. Der Klamottenberg von den Ausmaßen des Brockens war zusehends geschrumpft, die Dankbarkeit dafür aber ins Unermessliche gewachsen. Nur drei große Kartons mit Harzer Trachten waren am Ende übrig geblieben. Zum Glück. Flüchtlinge mögen bedürftig sein, wenn sie hier ankommen, blind sind sie allerdings noch lange nicht. Und wie es aussieht, wenn mehrere Iraner, Afghanen oder Eritreer in Harzer Trachten durch die Innenstadt laufen, will ich mir eigentlich gar nicht vorstellen.

 

Fortsetzung folgt...