Die deutscheste aller Tugenden ist die Mülltrennung - Teil 3
Auch das empfinde ich in gewisser Weise als typisch deutsch, diese Empörung über Nachbarn, die sich nicht der Norm entsprechend verhalten. Mit Unordnung in jeglicher Hinsicht, mit Ungewissheit und Unbestimmtheit kann der Deutsche nicht umgehen. „Was sollen denn die Nachbarn denken“ habe ich in meiner Kindheit häufig als Argument für alles mögliche gehört. Im Stillen habe ich mich immer schon gefragt, was die Nachbarn das denn angehen soll, aber aus irgendeinem Grund scheint eine Handlung in unserer Gesellschaft immer dann verwerflich zu sein, wenn die Nachbarn sich darüber das Maul zerreißen. Was hinter verschlossenen Türen passiert, ist ziemlich egal, aber wehe, wenn es bei der nächsten Müllabfuhr ans Licht kommt.
Das Plakat in arabischer Übersetzung drücke ich D. in die Hand und versuche ihm noch einmal klar zu machen, wie wichtig es ist. Integration ist in Deutschland nur möglich, wenn ich den Müll richtig trenne, nicht nach 18 Uhr den Rasen mähe und regelmäßig die Fenster putze. Früher gehörte auch noch die samstägliche Autowäsche aller rechtschaffenen Familienväter dazu, doch das hat sich aus Umweltschutzgründen ja zum Glück erledigt.
Um weiterhin Nachbarschaftsstreit vorzubeugen, nehme ich noch ein Plakat auf Dari mit, klingle an der Wohnung unten. Verstehen können sie mich leider weder auf Deutsch, noch auf Englisch, so dass ich einfach mal hoffe, sie halten unser Land nicht für völlig bekloppt, wenn ein Fremder ihnen ein Plakat zur Mülltrennung in die Hand drückt. Außerdem hoffe ich, dass sie zur Mehrheit derer in Afghanistan gehören, die Dari sprechen und damit überhaupt etwas mit dem Plakat anfangen können.
Am nächsten Tag klingelt mein Telefon. „Sind Sie der Ehrenamtliche, der die Familie A. betreut?“, fragt mich eine männliche Stimme. Sie stellt sich als ehrenamtlicher Betreuer der neuen Mieter vor, freut sich erst einmal, mich kennenzulernen, hat aber natürlich auch ein Anliegen. Zum einen habe die Vermieterin ihn auf das Mülltrennungsproblem angesprochen, das wir dringend lösen müssen. Zum anderen habe er von „seiner“ Familie erfahren, dass von oben immer Windeln herunter geworfen werden. „Vielleicht macht man das in Syrien so, hier geht das aber nicht“, erklärt er mir. Und wo wir gerade dabei sind, erwähnt er auch gleich noch mal nachdrücklich, wie laut die Kinder „unserer“ Familie doch seien, dass sie nachts herumlaufen und „seine“ Familie dadurch nicht schlafen könne.
Wenn der Bürgerkrieg in Deutschland nicht aufgrund falscher Mülltrennung ausbricht, dann definitiv wegen Ruhestörung. Vielleicht ist Ruhe sogar das noch größere Gut in unserer Gesellschaft. Auch das habe ich in meiner Studentenzeit gelernt, doch das ist eine andere Geschichte.
Jedenfalls verspreche ich, mich um fliegende Windeln und nächtliches Getrampel zu kümmern, gleich am Abend, denn dann wollen Rainer und ich sowieso noch einmal hinfahren und zusammen mit Nachbar I. als Übersetzer den Krieg vereiteln.
Als ich ankomme, fängt mich erst einmal eine Fahrradfahrerin ab, die mir erklärt, sie wohne ein paar Häuser weiter, habe schon mit anderen Nachbarn gesprochen, die sich alle über den nicht abgeholten Müll beschwert hätten. Ich nicke und sehe zu, dass ich aus der Schusslinie komme. Bevor ich klingeln kann, treffe ich allerdings auf Rainer, der auch nicht gerade ruhig und gelassen wirkt. „Unsere Vermieterin hat mir gerade einen wortreichen Vortrag gehalten“, erzählt er, „vor allem teilte sie mir mit, dass sie und ihr Mann den nicht abgeholten Müll jetzt mit beiden Familien zusammen sortiert haben.“ Na, das ist doch erst einmal positiv. „Das schon“, presst Rainer weiter mit mühsam unterdrücktem Ärger heraus, „aber als sie gönnerhaft meinte, jetzt habe sie uns aber einen großen Gefallen getan, hätte ich ihr am liebsten den Hals umgedreht. Was glaubt die denn, wozu wir hier sind? Wenn ich zuhause meinen Müll nicht anständig trenne, ist es schließlich auch meine Vermieterin, die mir aufs Dach steigen muss und nicht irgendein ehrenamtlicher Mülltrennbeauftragter wider Willen!“
Erst einmal beschwichtige ich ihn, muss mir anhören, dass ich zu gutmütig sei, dann erklären wir D. und F. gemeinsam mit I., meinen Anruf vom Vormittag. Natürlich ist es in Syrien nicht üblich, Windeln über den Balkon zu entsorgen und natürlich tun sie das auch hier nicht. Allerdings können wir M. nicht gänzlich von einem Verdacht freisprechen, vielleicht hat er seine Hinterlassenschaften tatsächlich einmal in den Garten geworfen.
Zum Glück können wir jetzt alle darüber lachen und zum Glück ist das Müllproblem damit auch ein für allemal aus der Welt. Ein wenig anders ist es mit den nächtlichen Spaziergängen der Kinder, denn alle drei wachen manchmal auf, haben wohl Alpträume und laufen dann ins Elternschlafzimmer. Sicher sind es keine durch Entwurzelung hervorgerufenen Psychosen, sage ich mir und muss kurz an Eva Herman denken, doch wahrscheinlich grausame Erinnerungen an Kriegs- und Fluchterlebnisse, die auch mich schlaflos machen würden. Allerdings fürchte ich, dass es hierfür keine Plakate mit Hinweisen gibt.