Tafeln wie die Könige - Teil 2
Wenige Tage später begleite ich D. noch einmal zur Tafel. Diesmal haben wir ganz regulär eine Nummer und sind nicht die ersten, die drankommen. Bevor wir aber an der Reihe sind, müssen wir eine neue Nummer ziehen und hier heißt es dann Schlange stehen. Wer zuerst da ist, darf sich zuerst einreihen, vorgedrängelt wird nicht, wer zwischendurch zum Rauchen nach draußen geht, verliert dadurch nicht seinen Platz in der Schlange. Finde ich super, weil es für mich in gewisser Weise auch ein Unterschied zu den Regularien des Kapitalismus ist.
Allerdings sind wir mit dem Prinzip noch nicht so ganz vertraut, stellen uns also erst einmal artig hinten in der Schlange an. Dass vor uns noch ein paar ältere Damen dran sind, die nebenan auf den Stühlen Platz genommen haben, können wir ja nicht ahnen. Allerdings werden wir schon bald von einer Dame darauf hingewiesen. „Na, wenn er meint, er muss den Platz da haben, soll er ihn behalten“, sagt sie mit Blick auf D. „Entschuldigung“, entgegne ich sofort, „wir wussten nicht, dass Sie vor uns dran sind. Bitte gehen Sie vor.“
Mit geradezu theatralischer Geste winkt sie ab und erläutert: „Nein, lassen Sie ihn ruhig, wir werden uns daran wohl sowieso noch gewöhnen müssen.“ In mir gehen plötzlich alle Alarmlampen an. „Wie meinen Sie das?“, hake ich nach. „Na, dass wir Frauen uns hinten anstellen müssen. Das ist bei denen eben so und damit werden wir uns hier wohl abfinden müssen.“ Etwas ungehaltener als ich eigentlich will, widerspreche ich mit einem entschiedenen „Nein, ganz sicher nicht, wenn Sie zuerst dran sind, dann werden wir uns nicht vordrängeln und das war auch nie unsere Absicht.“
Mir nimmt sie das vielleicht ab, doch D. scheint sie per se nicht zu trauen und schüttelt resigniert den Kopf. „Doch, doch, junger Mann, Sie in Ihrem Beruf müssen das ja anders sehen“, setzt sie an. Anscheinend hält sie mich für einen hauptamtlichen Gutmenschen oder so, auf jeden Fall klingt ihre Meinung ziemlich unerschütterlich. „Aber gegen all die, die wir hier reinlassen, haben wir keine Chance, die werden uns schon noch beibringen, dass wir uns hier bald überall hinten anstellen müssen.“
Ich will ja gar nicht abstreiten, dass es Zugezogene gibt, die sich vermutlich nie an die Gleichberechtigung gewöhnen werden. Allerdings liegt es auch zum großen Teil an uns und wie wir mit mitgebrachten patriarchischen Strukturen umgehen, denke ich. Außerdem spüre ich, dass es mich verletzt, wenn diese fremde Frau D. eine solche Haltung unterstellt. Vor allem, weil es überhaupt nicht der Realität entspricht. F. trägt nicht einmal Kopftuch, sie hatte von Anfang an kein Problem damit, uns die Hand zu geben, so wie ich es schon oft von anderen gehört habe und auch sonst macht sie keinen unterdrückten Eindruck. Und D. ist in meinen Augen alles andere als ein Macho.
Zwar ist sie es immer, die bei unseren Besuchen in der Küche verschwindet und dann mit frischem Kaffee zurückkommt, doch wenn es darum geht, die Gläser abzuräumen, packt er genauso mit an. Außerdem mag ich es, wie liebevoll er mit den Kindern umgeht, wie er mit ihnen spielt, mit welcher Geduld er die Kleinen anzieht, wenn wir zum Spielen rausgehen, und wie er auch oft der erste ist, der etwas auffängt, was M. plötzlich vom Tisch zu werfen versucht. All jene Vorurteile über südländische Familienstrukturen ziehen hier einfach nicht, finde ich. Genau genommen läuft bei den beiden vieles harmonischer und gleichberechtigter als früher bei meinen Eltern.
Daher bin ich erst einmal sauer, entgegne dann aber doch nichts und sage abschließend nur: „Wir dürfen uns aber auch nicht nach hinten drängen lassen, sonst können diejenigen, die es nicht sowieso schon wissen, das auch nicht lernen.“ Die Frau überzeugt das wenig und sie weigert sich vehement, sich in der Schlange wieder vor uns zu stellen. Vielleicht braucht sie das Erlebnis, um zuhause von ihren schlechten Erfahrungen mit dreisten Ausländern berichten zu können.
„Denk dir nichts dabei“, höre ich plötzlich eine Stimme von der Seite. Sie gehört einer Frau, die bei mir in der Nachbarschaft wohnt, die ich vom Sehen her kenne, mit der ich aber bisher nur wenige Worte gewechselt habe. „Hier wird viel geredet, da muss man nicht auf alles hören“, schaltet sich nun auch ein Jugendlicher ein, den ich von der Schule kenne, für die ich die Pressearbeit mache. Beide schaffen es, mich zu besänftigen und nicht weiter über den Vorfall nachzudenken. Allein D. wirkt immer noch verunsichert und guckt etwas schuldbewusst als wir schließlich vor der Frau unsere Nummer ziehen.