Eingebrannte Schreckensbilder

Ein schmaler Grat zwischen Spaß und Schrecken - Teil 2

 

Ganz hoch im Kurs steht bei uns erst einmal der Jahrmarkt, D. zeigt uns auf dem Smartphone sogar Fotos von sich und F. im Breakdance. Damals, so lässt er I. übersetzen, konnten sie das Fahrgeschäft und den ganzen Rummel noch unbeschwert genießen. Heute sei das so wohl nicht mehr möglich, obwohl er sich sehnlichst wünscht, mit seiner gesamten Familie, also seinen Eltern und Schwestern und deren Kindern in seiner Heimat bald wieder ein Fest besuchen zu können.

 

Die Angst vor der Zukunft für seine Kinder gab schließlich den Ausschlag, wegzugehen, erzählt er weiter. Er möchte, dass sie in Sicherheit und glücklich aufwachsen. Darum machte er sich auf den Weg nach Deutschland, weil er gehört hatte, hier sei das möglich. Rainer und ich hören gebannt zu, was er erzählt und was I. mit immer schwerer werdender Stimme übersetzt.

 

Zum ersten Mal erzählt D. nämlich auch von der Flucht, wie sie zu Fuß über die Grenze in die Türkei kamen und schließlich ebenso zu Fuß und auf Lkw weiter durch Europa bis sie endlich die deutsche Grenze erreichten. Zwischendurch mussten sie das Mittelmeer überqueren, in einem kleinen Schlauchboot, mit dutzenden anderen Flüchtlingen. „Das Wasser stand uns bis hier“, erzählt D. zieht mit der Hand in Brusthöhe eine Linie, „F. hatte M. im Arm und ich A., damit beide nicht untergehen. Aber S. rutschte uns mehrfach weg, glitt unter Wasser und wir mussten sie wieder rausziehen. Dreimal hat sie nicht mehr geatmet und ich musste sie wiederbeleben...“

 

 

Jetzt versagt D. die Stimme und auch F. ist anzusehen, mit welcher Wucht die Erinnerungen plötzlich wieder da sind. Für einen Moment herrscht Ruhe und es schnürt uns allen die Kehlen zu. „Lass uns für heute aufhören“, sage ich ziemlich hilflos zu I. Und dieser Bär von Mann dreht seinen Kopf zu mir, blickt mich mit feuchten Augen an und sagt: „Ja, ich kann nicht mehr. Sonst muss ich gleich losheulen.“

 

Außerdem kommen die Kinder in diesem Moment wieder ins Zimmer und wir müssen ohnehin das Thema wechseln. Zwar wirken alle drei nicht als seien die Erinnerungen an diese Überfahrt bei ihnen präsent, doch angeblich können Traumata ja auch viel später auftreten. Vielleicht haben wir im Moment einfach Glück, dass sie alles verdrängen können und die neuen Eindrücke überwiegen. Und vielleicht hilft es sogar, wenn wir ihren Alltag neben all den wichtigen formalen Dingen mit positiven Erlebnissen füllen. So jedenfalls reime ich es mir küchenpsychologisch zusammen.

 

Auf jeden Fall kann der Jahrmarktbesuch keine schlechte Idee sein. Ich selbst habe es als Kind und Jugendlicher geliebt, wenn bei uns auf dem Festplatz die Buden und Karussells aufgebaut wurden und ich erinnere mich auch immer noch gerne an meine erste große Liebe zurück, deren Familie damals einen Hot Dog-Stand hatte, in dem sie ab und zu aushalf. Jedes Jahr freute ich mich auf ein Wiedersehen mit ihr, zumindest solange, bis ich einmal mitbekam, dass die etwas mit einem Jungen aus der Parallelklasse hatte und ich damit bei ihr aus dem Rennen war.

 

Für die erste Liebe sind S., A. und M. noch zu jung, doch als wir sie am Sonntag ins Auto verfrachten und zum hiesigen Festplatz fahren, werden ihre Augen immer größer und insbesondere M. zappelt unruhig in seinem Kindersitz herum. Kaum aus dem Auto ausgestiegen, sind alle drei kaum noch zu halten, an der Straße müssen wir sie am Kragen festhalten, aber Verkehrsregeln sind in solchen Situationen schließlich auch bei in Deutschland aufgewachsenen Kindern zweitrangig.

 

Sie stürmen sofort auf die Fahrgeschäfte zu, insbesondere M., aber auch die Mädchen, sind jetzt völlig aus dem Häuschen. Sie wollen unbedingt überall mitfahren, am besten gleichzeitig und nie wieder aussteigen. Wir einigen uns auf den Autoskooter, D. steigt mit M. in einen Wagen, Rainer mit A. und ich mit S. Die Fahrt geht los und S. will unbedingt selbst steuern. Natürlich lasse ich sie und muss sehr schnell wieder einmal feststellen, dass ich ein unglaublich schlechter Beifahrer bin. Rainer ergeht es mit A. kaum besser. Schon nach wenigen Minuten sind wir ordentlich durchgeschüttelt, spüren jede Kollision deutlich in den Knochen, während die Mädchen laut lachen und sichtlich Spaß haben.

 

 

Nur M. ergeht es anders. Auch wenn er sonst in allem der Draufgänger ist, keine Höhe scheut und es ihm beim Toben sonst nicht zu wild zugehen kann, klammert er sich jetzt ängstlich an seinen Vater und verdrückt die ersten Angsttränchen. D. fährt sofort an die Seite, so dass F. den Kleinen aus dem Wagen ziehen kann, dann dreht er weiter seine Runden und nimmt natürlich vor allem Kurs auf Rainer und mich.

 

Nach einer Weile haben auch wir genug und überreden die Mädchen erst einmal, zum Kinderkarussell weiterzugehen. Die Fahrt in einem Feuerwehrauto findet M. wesentlich toller als den Autoskooter und auch A. und S. begeistern sich sofort für ein Pony und eine Mickey Mouse, die sich im Kreis drehen. Ihnen scheint vor allem wichtig, dass sich an diesem Tag alles um sie dreht, dass wir uns um sie kümmern und dass sie so lange Spaß haben dürfen, wie sie wollen.

 

Nach einer Weile wollen sie dann doch noch einmal zurück zum Autoskooter und gehen mit F., D. und Rainer schon einmal vor, während ich noch bei M. bleibe, der mit seinem Feuerwehrauto noch längst nicht dort angekommen ist, wo er hinfahren wollte. Als wir nach einer ganzen Weile nachkommen, steht Rainer schließlich mit den Mädchen am Rand und sieht ihnen beim Zuckerwatteessen zu, während nun D. und F. ihre Runden drehen.

 

Erst jetzt fällt mir wieder einmal auf, wie jung die beiden eigentlich noch sind und dass auch sie vermutlich einiges nachzuholen haben, was der Krieg in ihrer Heimat unmöglich machte. Wir lassen sie fahren, drücken ihnen die restlichen Chips in die Hand und verdrücken uns dann mit den Kindern zur großen Hüpfburg. Den dreien gefällt auch das und sie sind noch lange nicht müde und ihre Eltern haben sich diesen Moment unbeschwerter Zweisamkeit in jedem Fall verdient.