Vor dem Asyl steht in Deutschland die Bürokratie - Teil 1
D. und F. müssen zur Anhörung beim BAMF, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Dazu haben sie am Montag um acht Uhr in der Erstaufnahmeeinrichtung in Friedland zu sein. Das erfahren wir aus einem Brief, der uns am Donnerstag vorher erreicht. Zum Glück hat D. sofort gesehen, dass dieser Brief wohl wichtig sein muss und direkt bei Rainer angerufen. Der wiederum hat mich informiert, weil wir jetzt überlegen müssen, wie wir das logistisch hinbekommen.
„So kurzfristig bekomme ich keinen Urlaub“, stellt Rainer bedauernd fest. Ich übrigens auch nicht, ich habe am Montag Termine, die ich nicht verlegen kann, schon gar nicht innerhalb von drei Tagen. Überhaupt frage ich mich, warum so wichtige Termine derart kurzfristig angesetzt werden. Der Brief trägt auch tatsächlich das Datum des heutigen Tages, es scheint also gängige Praxis des Bundesamtes zu sein, Flüchtlingsfamilien drei Tage im Voraus zu einem Termin zu laden, der über nicht weniger als ihr Bleiberecht und damit ihre Zukunft entscheidet. Noch dazu ist der Text ausschließlich auf Deutsch verfasst, weshalb D. uns ja überhaupt um Hilfe gebeten hat.
„Was machen denn Familien, die keine Betreuer haben?“, frage ich Rainer. „Die gehen zum Amt, bekommen dort einen Termin für nächsten Mittwoch und bei der Gelegenheit wird ihnen dann übersetzt, dass sie die wichtige Anhörung leider verpasst haben“, antwortet er sarkastisch und mit einigem Groll.
Das wiederum wollen wir unbedingt vermeiden, müssen uns jetzt also eine Lösung einfallen lassen. Sie mit dem Auto hinfahren fällt leider flach, zum einen weil wir beide arbeiten müssen, zum anderen weil wir alle fünf sowieso nicht in ein Auto bekommen hätten. Schade eigentlich, denn grundsätzlich wäre ich bei der Anhörung gerne mit dabei gewesen. Oder zumindest auf dem Weg dorthin.
Bleibt also nur die Fahrt mit dem Zug. Wir werden wohl eine Fahrkarte kaufen und ihnen ganz genau erklären müssen, wo sie umsteigen sollen. Schon beim Gedanken daran, werde ich nervös. Wenn ich mir vorstelle, mit drei kleinen Kindern in einem fremden Land, dessen Sprache und Schrift ich nicht verstehe, zu einem so wichtigen Termin unterwegs zu sein, dann übersteigt ein Happy End mein Vorstellungsvermögen. Trotzdem müssen wir es versuchen.
Am Abend erzähle ich noch Freunden von der meiner Meinung nach frechen Terminvorgabe, die allerdings erst einmal erzählen: „Kennen wir. War bei unseren Flüchtlingen genauso.“ Noch während ich mich aufrege, erzählen sie weiter, dass in ihrem Fall der Brief aber zwei Wochen zuvor ankam, die Familie sie nur erst kurz vor knapp gefragt hat, ob sie sie hinfahren können. „Du weißt ja, deutsche Pünktlichkeit ist in manchen Teilen der Welt nicht so angesagt und sowas wie Terminstress kennen viele nicht.“
Grundsätzlich stelle ich mir eine Welt ohne Terminstress wesentlich glücklicher vor. Zumindest, wenn ich nicht derjenige bin, der auf jemand anderen wartet. Ach, egal, jedenfalls war es bei uns ja anders. „Der Brief ist aber echt erst heute angekommen“, gebe ich zurück, „wir haben extra aufs Datum geguckt.“ D.s schlechtes Gewissen, wenn er uns erst in ein paar Tagen den Brief gezeigt und somit aus eigener Schuld den Termin verpasst hätte, mag ich mir gar nicht vorstellen. Auch wenn er die deutsche Pünktlichkeit vielleicht nicht mit der Muttermilch aufgesogen hat, so kenne ich doch kaum einen Menschen, der so sehr bemüht ist, Absprachen einzuhalten und sich an hiesige Gegebenheiten anzupassen.
„Sag mal“, haken meine Freunde jetzt nach, „fährt so früh überhaupt schon ein Zug?“ Für einen Augenblick erstarre ich und habe das Gefühl, alles um mich herum würde sich drehen. Tatsächlich sind es nur meine Gedanken, die kreisen und sich schließlich zu einer unangenehmen Gewissheit formen. „Ehrlich gesagt bin ich mir ziemlich sicher, dass der erste Zug ab Osterode überhaupt erst um sieben fährt und das wird dann nix.“
Mit diesem Gefühl im Bauch checke ich online die Bahnverbindungen. Tatsächlich erweist sich Osterode in diesem Fall als Provinznest und eine Fahrt nach Göttingen ist vor sieben Uhr nur mit dem Bus über Katlenburg möglich, in Friedland wären F. und D. dann erst deutlich nach acht Uhr. Immer vorausgesetzt, sie kommen überhaupt richtig an.
„Ach, bei uns war es so, dass wir mit unserer Familie um acht Uhr da waren und dann bis halb zwölf warten mussten, bis wir überhaupt drankamen“, versuchen meine Freunde mich ein wenig zu beruhigen. Funktioniert nur bedingt, vor allem aber macht es mich noch wütender. Okay, es mag ja sein, dass die auf ihre Asylantragsprüfung wartenden Flüchtlinge ihre Zeit relativ frei einteilen können. Für ehrenamtliche Betreuer gilt das allerdings nicht. Und leider bin ich mehr und mehr davon überzeugt, dass allein schon die Antragstellung und nebenbei bemerkt auch viele andere Formalitäten ohne Hilfe für Menschen aus anderen Kulturen nicht zu schaffen sind. Soll das unsere Form der Integration sein?
Fortsetzung folgt...