Glaubensfragen - Teil 2
Mit der zweisprachigen Bibel komme ich nicht so schnell voran, denn, ich gebe zu, ich habe es schon fast wieder vergessen als ich zwei Tage später in Hannover bin und nach einem Termin noch Zeit habe, durch die Innenstadt zu bummeln. Seit ich in der Kleinstadt wohne, mache ich das echt gerne, gar nicht unbedingt zum Shoppen, sondern vielmehr, um dem Maler zuzusehen, der mit Kreide ein ebenso flüchtiges wie großartiges Kunstwerk aufs Pflaster zaubert, oder bei Straßenmusikern stehenzubleiben und mich nicht selten zu fragen, warum andere, die weit weniger Talent haben, Plattenverträge bekommen. Aber darum soll es ja jetzt gar nicht gehen.
Als ich nämlich gedankenverloren durch die Fußgängerzone laufe, stoße ich fast mit einem jungen Mann zusammen, der mir ein unscheinbares Büchlein unter die Nase hält. „Das Neue Testament“ steht in goldenen Buchstaben darauf. „Darf ich dir eine Bibel schenken?“, fragt er und weist auf den Büchertisch, den ich, obwohl ich direkt darauf zulaufe, gar nicht wahrgenommen habe. Keine Zeugen oder so, sondern ein evangelischer Verein, der in Innenstädten kostenlos Bibeln verteilt. „Danke“, wiegele ich fast schon automatisch ab, „ich hab' schon 'ne Bibel.“
Dann werde ich aber doch noch wach und füge hinzu: „Allerdings könnte ich eine auf Arabisch brauchen.“ Jetzt lächelt er, führt mich zum Büchertisch und hakt nach: „Aber du bist kein Araber, oder?“ Kurz erzähle ich ihm, dass ich mich gemeinsam mit einem Freund um eine syrische Flüchtlingsfamilie kümmere und dass wir neulich bei einem Gespräch über Religion mal wieder an der Sprachbarriere gescheitert sind. „Dann nimmst du deiner Familie eine zweisprachige Bibel mit, und vielleicht lesen sie ja mal darin und finden Antworten“, sagt er und drückt mir das Neue Testament in Arabisch und Deutsch in die Hand.
Zurück in Osterode ruft Rainer mich an, dass er gerade bei F. und D. ist und fragt, ob ich auch noch vorbeikomme. Die Bibel nehme ich gleich mit und drücke sie den beiden in die Hand, ohne weiter darauf einzugehen. Die passende Zeit, um ihnen zu erklären, warum es mir wichtig ist, wird schon noch kommen. Im Moment bleibt dazu keine Zeit, denn die Kinder freuen sich, mich zu sehen und noch jemanden zum Herumtoben zu haben. Soll mir recht sein. Genaugenommen genieße ich das sehr und bin immer noch froh, dass alle drei keine Berührungsängste zeigen und meistens ausgelassen sind als ob sie nie etwas anderes als dieses heile Familienleben erlebt haben.
Vor allem bei M. scheint es echt so zu sein, dass er alle Erinnerungen an die Flucht längst verdrängt hat, bei den Mädchen, insbesondere bei A., kommt es mir manchmal so vor als tauchen einige Bilder aus der Vergangenheit wieder auf. Doch im Moment verblassen diese Bilder neben der momentanen Familienidylle wohl.
„Die Zeugen waren übrigens schon wieder da“, reißt mich Rainer aus meinen Gedanken. Schon nach dem ersten Besuch hatte er seiner Frau Monika davon erzählt, die nur vehement gefordert hatte: „Warum habt ihr die nicht gleich wieder vor die Tür gesetzt?“ Also frage ich ihn, ob er sie diesmal rausgeschmissen hat, und er antwortet: „War gar nicht nötig. F. hat die Tür gar nicht erst aufgemacht.“
Für einen Moment überlege ich, ob ich sie mit meiner Bibel zu sehr bedränge oder ob ich wie so viele Christen in unserem Land eigentlich zu übervorsichtig bin, wenn es um Glaubensfragen geht. Natürlich will ich niemandem meine Meinung aufdrücken oder irgendwie religiöse Gefühle verletzen, doch das heißt ja noch lange nicht, dass ich meine eigenen Überzeugungen verbergen muss, oder? Schließlich lebe ich als Protestant in der Tradition Martin Luthers, und dem war es wichtig, dass jeder die Bibel in seiner Sprache lesen kann, um selbst darüber nachzudenken und sich eben nicht von anderen den Glauben erklären lassen zu müssen.
Eine Antwort, darauf, noch dazu eine erstaunliche, bekomme ich dann als ich das nächste Mal bei F. und D. bin und die Kinder gerade im Kinderzimmer beschäftigt sind. Von sich aus schneidet D. das Thema Christen und Muslime erneut an. Er erzählt mir, dass er als Kurde für viele Syrer ohnehin nur ein Muslim zweiter Klasse ist, für die Fundamentalisten des IS sowieso, aber auch für viele andere. Offenbar macht ihm das zu schaffen und wirft Fragen auf.
Unterschiedliche Strömungen gibt es auch im Christentum, mache ich ihm klar. Schließlich ist es noch nicht so lange her, dass es auch hierzulande Glaubenskriege zwischen Katholiken und Protestanten gab, zumindest aber gewisse Vorbehalte, Einschränkungen und gegenseitige Abgrenzung. Für mich steht einfach fest, dass Religion etwas Persönliches ist und keinesfalls gesellschaftliche Auswirkungen auf was auch immer haben sollte. Aber das ist eben nur meine Ansicht und auch bei uns in Deutschland gibt es genug Menschen, die anders denken.
„Bei euch Christen ist es aber so, dass ihr immer anderen helfen wollt“, sagt D. jetzt, „bei Muslimen ist das anders.“ Ja, die Nächstenliebe ist für mich so ziemlich der wichtigste Aspekt meines Glaubens, versuche ich ihm klarzumachen. Doch auch da bin ich mir nicht sicher, ob sich das verallgemeinern lässt.