Wer ist an der Reihe?

Syrische und deutsche Spielregeln - Teil 1

 

Rainer und Monika führen seit mehr als zwanzig Jahren eine Fernbeziehung. Sie haben sich damals im Urlaub kennengelernt, erst war es nur ein Flirt, dann blieb nach der Rückkehr aber doch etwas, das sich wie Liebe anfühlte. Er fuhr immer häufiger zu ihr nach Bielefeld, bald dann jede Woche und es wurde eine echte Beziehung daraus.

 

Zu ihr zu ziehen oder sie hierher, war immer eine Überlegung, doch nie mehr. Trotzdem schafften sie es mit dieser Wochenendbeziehung, die Kinder großzuziehen, sich dort eine gemeinsame Wohnung zu suchen und nach vielen Jahren dann auch endlich mal zu heiraten. Es war eine der schönsten Hochzeiten, bei denen ich je zu Gast war, weil es völlig unverkrampft, ja irgendwie erwachsen und ohne diesen ganzen Stress und den unbedingten Willen zum Perfektionismus ablief.

 

Ehrlich gesagt war nicht nur die Hochzeit, sondern ist ihre gesamte Beziehung für mich der Inbegriff von Romantik. Von außen betrachtet ist es sicherlich stressig, jeden Freitag zweihundert Kilometer hin und sonntags zweihundert Kilometer zurück zu fahren. Trotzdem hat Rainer seinen Job hier nie aufgegeben und verlagert sein Privatleben größtenteils aufs Wochenende. Dass die beiden dabei immer noch verliebt sind wie am ersten Tag und mit jedem Stress fertig zu werden scheinen, bewundere ich sehr.

 

 

Außerdem bin ich natürlich ganz egoistisch und froh, dass Rainer noch hier ist, denn selbst Freundschaften über eine solche Entfernung wirklich intensiv zu pflegen, ist nun mal nicht einfach. Noch dazu muss ich bei allem Spaß, den unsere ehrenamtliche Arbeit macht, auch ganz klar sagen: ganz allein würde ich es nicht schaffen. Dazu sind es einfach zu viele Behördengänge, Anträge und Sprachschwierigkeiten, die dann ja noch mehr ins Gewicht fallen würden.

 

Da wir uns die Arbeit aber teilen, bleibt genug Zeit, damit wir auch emotional für D., F. und die Kinder da sein können. Und vor allem, auch mit ihnen zu spielen. Genau das brauchen S., A. und M. nämlich. Solange sie noch nicht in den Kindergarten gehen, sind sie ja fast immer mit ihren Eltern allein in der Wohnung, zumal es in der Nachbarschaft wenig Kinder im gleichen Alter zu geben scheint. Auch das war bei uns damals vollkommen anders.

 

Meine Eltern haben Anfang der 80er Jahre ein Haus in einer Neubausiedlung gekauft, genau wie dutzende andere Familien auch, die beruflich auf einem geraden Weg waren und sich das ersehnte Eigenheim endlich leisten konnten. Somit waren wir Kinder in der Straße fast alle im gleichen alter und noch dazu so viele, dass immer jemand zum Spielen da war. Ich weiß gar nicht, ob es sowas heute noch gibt oder ob es nicht typisch für den Wohlstand der 80er ist.

 

Andererseits kommen auch gerade viele Flüchtlingsfamilien nach Deutschland, die sich wie F. und D. eine bessere Zukunft für ihre Kinder wünschen, vor allem eine, die nicht von Krieg und Verlust geprägt ist. Somit könnte auch hier gerade eine Generation heranwachsen, die viel gemeinsam hat und sich vielleicht in zwanzig Jahren ebenso an Kindersitze und Anschnallpflicht im Auto, kalte Winter mit viel Schnee, die DRK-Kleiderkammer, die täglichen Anrufe in der Heimat und die vielen anderen neuen Eindrücke eines fremden Landes erinnert wie wir damals ans samstägliche Baden mit dem Playmobil-Piratenschiff, nach dem wir dann noch Wetten Dass gucken durften. Zumindest wünsche ich mir das.

 

 

Allerdings könnte es bis dahin auch ein weiter Weg werden. Rainer hat heute nämlich ein Spiel mitgebracht, dass wir mit den dreien ausprobieren wollen. Gar nicht so einfach. Auf Deutsch klingen die Regeln ziemlich einfach, auf Arabisch würde ich vermutlich auch nichts verstehen. Noch dazu findet A. es viel spannender, die Spielfiguren alle in einer Reihe aufzustellen und nicht sortiert nach Farben auf ihren Startfeldern. M. hingegen ist von den Würfeln fasziniert, allerdings weniger von ihrer eigentlichen Funktion als vielmehr davon, wie weit man sie durch Zimmer schleudern kann. S. will unbedingt mit uns spielen, überlegt nach einer Weile aber sehr angestrengt, wie sie ihre nervigen kleinen Geschwister loswerden kann.

 

Mensch ärgere dich nicht müssen wir in diesem Falle wörtlich nehmen und alle Kraft aufbringen, um ruhig und gelassen zu bleiben. Haben wir zu viel erwartet? Spielt man in Syrien überhaupt Brettspiele? Ja, natürlich, auch D. und F. können Schach und wollten sich sogar schon Figuren und ein Brett kaufen. Nur wie verbreitet Spiele für Kinder sind, weiß ich nicht. Auch bei uns wurden die wahrscheinlich nur erfunden, weil die Winter so lang sind und Eltern nicht wussten, wie sie ihre Sprösslinge über all die Monate in der Wohnung beschäftigen sollten.

 

Okay, später kam dann auch ein pädagogischer Aspekt dazu. Den würden wir ja gerade auch gerne im Blick haben, viel wichtiger ist allerdings, dass die Würfel nicht gleich auf nimmer Wiedersehen unterm Sofa verschwunden sind und A. das rote Männchen nicht verschluckt. Wir sollten unsere Ziele deutlich kleiner stecken, merken wir.

 

Fortsetzung folgt...