99 Prozent gleich

Lesen erweitert den Horizont - Teil 1

 

Grönemeyer kommt. Nein, nicht Herbert, sondern sein Bruder Prof. Dr. Dietrich. Der singt zwar nicht, dafür aber versteht man jedes Wort. Und er hat ja auch durchaus etwas zu sagen. Immerhin ist der Arzt für seine ganzheitliche Medizin bekannt und dafür, dass er nicht nur den Körper, sondern auch den Geist und die Seele seiner Patienten betrachtet. Nun sollte er den Festvortrag bei unserem großen Fest zum Luther-Jahr halten. Hat vermutlich auch damit zu tun, dass er im Harz geboren ist und daher vielleicht hier eher zusagt als anderswo.

 

Wie auch immer, da ich nun mal die Pressearbeit für den Kirchenkreis mache, sollte ich auch dieses Großevent ankündigen. Allerdings gehört das Schreiben von Ankündigungen für mich seit jeher zu den journalistischen Aufgaben, die ich weniger gerne erledige. Man kämpft sich durch immer gleiche PR-Texte, recherchiert ein wenig im Internet und schreibt am Ende einen Text, der fast wortwörtlich auch schon mal in Bochum, in Mannheim und in Stuckenborstel in der Zeitung stand. Nicht gerade preisverdächtig und eben auch stinklangweilig.

 

Ein Interview ist oft eine echt gute Alternative. Zudem hatte ich mit Mail- und Telefoninterview schon häufiger gute Erfahrungen gemacht. Jedenfalls mit sogenannten Medienprofis, also Leuten, die selbst kaum Zeit haben, sich für mehrere Stunden mit einem kleinen Lokaljournalisten in einem hübschen Café zu treffen. Blöd nur, dass ich über Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer kaum etwas weiß, geschweige denn über den Vortrag, den er halten würde.

 

 

Allerdings hatte der Mediziner gerade ein neues Buch veröffentlicht: „Wir – Vom Mut zum Miteinander“. Klang ja recht vielversprechend, ausschlaggebend war dann aber ehrlich gesagt die Seitenzahl von gerade einmal 71 Seiten. Das klang machbar. Und schließlich habe ich Literaturwissenschaft studiert und bin über Buchrezensionen überhaupt erst zum Journalismus gekommen. Was lag also näher als das Buch zu lesen, zu rezensieren und dann vielleicht als eine zweite Ankündigung ein darauf basierendes Interview nachzuschieben?

 

Nun muss ich allerdings zugeben, dass es sich in diesem Fall doch leichter anhörte als es letztlich war. Denn die ersten Kapitel kamen mir belanglos und voller Allgemeinplätze vor. Grönemeyer ließ sich über Fortschritt, den Reichtum der Industrienationen und die oft würdelosen Bedingungen für den ärmeren Teil der Weltbevölkerung aus. Dann über Humanismus und unsere Pflicht, jeden Menschen gleich zu behandeln, da wir eben auch von jedem gleich behandelt werden wollen und so weiter und so fort.

 

Um all das zu wissen, brauche ich keinen Grönemeyer, dachte ich mir, all das haben vor ihm auch schon andere geschrieben. Einen Verriss zu schreiben, kam aber auch nicht infrage, schließlich ging es ja darum, unsere eigene Veranstaltung zu bewerben. Also biss ich mich durch und hoffte auf etwas mehr Substanz dieses Büchleins, das immerhin mit „Ein Manifest“ untertitelt war. Ich gebe zu, so richtig packte er mich bis zum Schluss nicht.

 

 

Erst als ich über meine Rezension nachdachte und anfing, seinen Text im Kopf auseinanderzunehmen und mir für meinen Artikel zurechtzulegen, wurde mir nach und nach klar, wie der Autor eigentlich argumentierte. Es ging ihm letztlich um nicht weniger als um das friedliche Zusammenleben der gesamten Menschheit. Und das könnte, so verstand ich ihn, eigentlich so einfach sein. Ist es in unserer globalisierten Welt aber nicht, gerade in den letzten Jahren scheint es durch die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, durch die uneingeschränkte Herrschaft des Kapitalismus und vor allem durch religiöse oder nationalistische Fanatiker sogar schwerer denn je.

 

Gut, den Ausgangspunkt hatte ich kapiert und konnte dem auch voll zustimmen. Nun sind es aber laut Grönemeyer nur zwei Faktoren, die die Welt dem Frieden ein gutes Stück näher bringen können. Zum einen müssten wir Menschen begreifen, wie ähnlich wir alle einander sind, wie wenig Unterschied Hautfarbe, Kultur etc. doch ausmachen. „Gerade weil unsere Erde aus dem Gleichgewicht zu geraten droht, unser Leben – das aller und das des Einzelnen – seine Balance verlieren könnte, wächst ein neues Bewusstsein für diese Gefahr, das Verlangen nach der Gemeinsamkeit aller Menschen“, schrieb er, „Geschwisterlichkeit, das ist für mich als Naturwissenschaftler auch ein naturgegebenes Faktum. Denn die DNA aller Menschen ist ja zu mehr als 99 Prozent identisch.“ Grundsätzlich auch keine neue Erkenntnis, das aber aus einem medizinischen Blickwinkel zu sehen ist durchaus interessant, dachte ich mir und freundete mich langsam mit dem Buch an.

 

Fortsetzung folgt...