Lesen erweitert den Horizont - Teil 2
Somit müssten wir, so Grönemeyer, die natürliche Angst vor dem Fremden überwinden, um in einer immer enger zusammenwachsenden Welt, die ja ebenfalls ein Fakt ist, Stabilität erreichen zu können. Das hieß seiner Meinung nach aber keinesfalls, dass wir alle gleich sein sollen, denn zweitens müssten wir den Mut finden, uns nicht von der Wirtschaft zum Konsumenten und gläsernen Kunden machen zu lassen, sondern uns zu unserer Individualität bekennen und diese auch in all ihren Facetten ausleben.
Auch das war definitiv eine These, der ich zustimmen konnte. Und hier lag tatsächlich vielleicht auch das Neue an seinem Manifest, denn diese Verbindung zwischen genetischer Ähnlichkeit und dem Aufruf zur Individualität hatte ich so noch nie gefunden. Andersherum schon eher, wenn nämlich Unternehmen und Werbung die Menschheit in Käufergruppen einteilen, die sie dann aufgrund bestimmter gleicher Merkmale gezielt bewerben können.
Hier ging es aber offenbar darum, dass eine Gemeinschaft immer nur durch starke Persönlichkeiten und Heterogenität lebt und sich weiterentwickeln kann. Auch das war für mich keine neue Erkenntnis, aber immerhin war der Weg zu dieser Einsicht einer, den ich so noch nicht kannte. „Ob wir nun Christen, Juden, Moslems, Hindus, Freidenker oder Anhänger eines anderen Glaubens sind, wir dürfen nicht nur die Gemeinschaft der Gleichgesinnten im Blick haben, sondern sollten auf die Vielfalt des Lebens schauen“, hieß es im Buch.
Das reichte mir, um eine positive Rezension zu schreiben, doch letztlich blieben es banale Wahrheiten. Erst als ich meinen Text längst fertig hatte, kam mir der Gedanke, dass es in unserer Zeit vielleicht gerade darum geht. Darum, dass jemand diese banalen Wahrheiten, die uns eigentlich seit der Zeit der Aufklärung bekannt sind, noch einmal deutlich ausspricht. Immerhin gibt es genug Populisten, die gequirlten Blödsinn brabbeln und damit viele Leute verunsichern und ihnen Angst machen. Genauso muss es auch die anderen geben, die die alten Werte unserer Kultur in neue Worte fassen und diese dagegenhalten.
Natürlich werden diese Worte weniger gehört als die kämpferischen. Natürlich ist es leichter an das Nationalbewusstsein zu appellieren als an die Einsicht, dass wir als Menschen alle auf dem gleichen Planeten leben. Doch in einer Zeit, in der Reiche gegen Arme, der Westen gegen die arabische Welt und „Wir sind das Volk“-Schreihälse gegen erklärte Gutmenschen in Stellung gehen, ist es vielleicht wichtig, nicht in diesen Lagern, sondern in den Kategorien Menschheit und Individuum zu denken.
Kurz vor der Grönemeyer-Rezension schrieb ich – diesmal nicht für die Kirche – eine über ein Jugendbuch der Journalistin Annabel Wahba. In „Tausend Meilen über das Meer“ erzählt sie die Geschichte eines syrischen Jugendlichen, der mit seiner Familie zunächst nach Ägypten und von dort aus allein über das Mittelmeer nach Deutschland flieht. Das Spannende an dem Buch war einerseits, dass es auf den Gesprächen der Autorin mit einem 15-Jährigen minderjährigen Flüchtling, also auf einer wahren Begebenheit basierte und viel mehr noch, dass sie nicht auf die Tränendrüse drückte und nur die schrecklichen Erlebnisse der Flucht schilderte, sondern einen Schritt weiter ging.
Das Buch endete nämlich nicht mit der Ankunft in Deutschland, sondern fing da eigentlich erst richtig an. Der Junge kommt in eine deutsche Schule, in der ihm alles fremd ist, doch er hat keine Zeit, sich erst einmal in Ruhe zu integrieren, sondern gerät schon bald in die typischen Teenagerprobleme. Als die Jungen nämlich merken, dass er ein guter Fußballer ist, entsteht sehr schnell eine Konkurrenzsituation. Bei den Mädchen wiederum kommt er als Sportler gut an, was aber die Ablehnung der Jungen nur verstärkt. Schon bald verfängt er sich in einem Geflecht aus erster Liebe, Mobbing und Unsicherheiten, das wohl auch keinesfalls vom Kulturkreis, sondern lediglich von dieser blöden Pubertät abhängt.
Genau das hat mir an dem Buch unglaublich gefallen, vor allem, weil die Autorin alles so lebensnah erzählte. Je mehr ich mich darin vertiefte, desto mehr kam ich zu der Erkenntnis, dass die bei uns lebenden Flüchtlinge ja nicht nur mit der Integration zu kämpfen haben, sondern dazu auch noch mit all den Problemen, die auch unseren Alltag erschweren. Vielleicht sollten wir also gar nicht alles immer nur aus dem Blickwinkel verschiedener Kulturkreise betrachten, sondern eben zum einen als menschlich und zum anderen sehr individuell.
Zumindest nahm ich mir fest vor, so manches, womit F. und D. nicht klarkamen, nicht mehr als interkulturelles, sondern als generelles Problem anzusehen. Mit irgendwelchen Behördenformularen, die es auszufüllen gilt, habe ich ebensolche Probleme wie die beiden, Kinder im Kindergarten auf einen neuen Lebensabschnitt zu schicken ist auch für deutsche Eltern ein gewichtiger Schritt und auch bei vielen meiner deutschen Freunde gibt es bestimmte Gewohnheiten, Ticks oder wie immer man es nennen will, mit denen ich mich erst einmal anfreunden muss. Vieles hat wohl tatsächlich damit zu tun, dass wir Menschen zwar genetisch zu mehr als 99 Prozent gleich gebaut sind, dieses eine letzte Prozent aber für unglaublich viele Missverständnisse sorgen kann.