Wir gehören zur Familie - Teil 1
Von Anfang an war eines unserer wichtigsten Ziele die Anmeldung der Kinder im Kindergarten. Viel schneller als jeder Erwachsene können sie sich an eine neue Umgebung gewöhnen, viel schneller eine neue Sprache lernen und viel schneller neue Freunde finden, sagten wir uns. Noch dazu sind Kinder nun einmal diejenigen, die am allerwenigsten für die Kriege und Lebensumstände in ihrer Heimat können und die es daher unbedingt verdient haben, so schnell wie möglich ein Leben in sicheren Bahnen zu führen.
Heute dürfen wir S. sogar in der Grundschule anmelden, die sie dann ab dem nächsten Jahr besuchen darf. Darauf bin ich ehrlich gesagt ein wenig stolz. Immerhin hat es eine Weile gedauert, bis die drei einen Kindergartenplatz bekommen haben. „Ich kann sie ja nicht vorziehen, während andere Kinder schon viel länger auf der Warteliste stehen“, hatte die Leiterin uns damals bedauernd erklärt. Das mussten wir leider einsehen.
Dafür wurden wir dann aber gemeinsam mit F. und D. zu einer Besichtigung mit erstem Kennlerngespräch eingeladen und wurden als Paten fast wie Familienmitglieder betrachtet. Sowas bringt ehrlich gesagt ein paar Glücksgefühle mit sich. „Ich schreibe mir mal Ihre Namen auf und trage Sie in der Liste derer ein, die die Kinder aus dem Kindergarten abholen dürfen“, hatte eine Mitarbeiterin uns damals gesagt, „es kann ja sein, dass mal etwas ist und Sie hier statt der Eltern auftauchen.“
Tatsächlich haben wir bis heute einen ziemlich engen Draht und werden tatsächlich ab und zu angerufen, wenn etwas besonderes vorfällt oder manchmal auch einfach, um uns über Fortschritte zu informieren. Das ist, glaube ich, nicht selbstverständlich, erleichtert allerdings vieles und gibt Rainer und mir ein echt gutes Gefühl. Verantwortung zu tragen ist ja generell ein schönes Gefühl und auch das, auf die Familie aufpassen zu könne und sie in gewisser Weise zu beschützen. Mir bedeutet das jedenfalls sehr viel.
Ich hoffe, mit der Schule wird es ähnlich laufen. Die ist übrigens gleich nebenan und auch dort werden wir und vor allem S. sehr freundlich empfangen. Während Rainer mit D. und seiner Tochter ins Büro der Rektorin geht, um alles nötige zu besprechen, bleibe ich mit F. und A. und M. draußen auf dem Spielplatz. Sofort erobern die beiden das Klettergerüst mit der großen Rutsche, zu der allerdings ein paar für kleiner Kindergartenkinderbeine weit auseinanderliegende Stufen fühlen. A. sieht mich mitleidig an und fragt, ob ich sie hochheben kann. Mache ich natürlich. Nun will M diesen besonderen Service natürlich auch genießen und auch ihm gewähre ich es.
F. lässt mich machen und hält sich erst einmal im Hintergrund. Ich weiß nicht genau, ob sie es genießt, mal ein paar Minuten nicht ständig mit mindestens einem Auge auf die Kinder schauen zu müssen. Immerhin ist sie mit ihren 22 Jahren noch sehr jung und die drei sind nicht ihre leiblichen Kinder. Noch immer bewundere ich, wie sie diese für sie anfangs doch bestimmt nicht leichte Aufgabe hinbekommt und das auch noch liebevoll und so, dass die drei auch noch auf sie hören.
Über die Familiengeschichte wissen wir ja immer noch relativ wenig. Da wir nicht zu viel nachbohren wollen und immer nur darauf warten, dass die beiden von sich aus etwas erzählen, erfahren wir nur ab und zu etwas aus ihrer Zeit vor der Flucht. Schließlich wollen wir ihnen aber Brücken bauen, damit sie hier ankommen können, und nicht in der Vergangenheit stochern und alte Wunden aufreißen. Daher betrachte ich auch nach wie vor alles, was sie uns erzählen, als großen Vertrauensbeweis.
D. hat uns nur wenig von der leiblichen Mutter seiner Kinder erzählt. Mit ihr war er wohl von Syrien in den Irak gegangen, weil sie als kurdische Familie dort bessere Chancen hatten, erzählte er einmal. F. lernte er aber dann wieder in Syrien kennen, meine ich und seine erste Frau, so erzählte er neulich mal, sei auch geflohen und wohl inzwischen irgendwo in Europa.
Gar nicht nachzufragen klappt natürlich nicht immer, schließlich bin ich auch ein Stück weit neugierig. So hat er mir dann auch erzählt, dass die Mutter seiner Kinder wohl auch auf dem Weg nach Deutschland sei, er ihr aber nicht erzählen will, wo er sich genau aufhält, weil er Angst davor hat, sie wolle ihm die Kinder dann wieder wegnehmen. Wie das jetzt allerdings alles genau zusammenhängt, habe ich nicht verstanden, zum Teil weil die Geschichte doch komplizierter scheint, zum Teil aber auch, weil solche Gespräche auf Deutsch leider immer noch eine echt große Hürde darstellen.
Bei den Kindern ist das inzwischen bedeutend leichter. Die sprechen, soweit ich es beurteilen kann, inzwischen ebenso gut deutsch wie arabisch. S. sowieso, sie schnappt im Kindergarten so viel auf, dass ihr dabei gar nicht auffällt, wie sie die fremde Sprache lernt. A. ist leider allgemein ziemlich zurückhaltend und spricht nicht allzu viel, bei ihr bin ich mir allerdings sicher, dass sie fast alles, was wir sagen, versteht. Und M. lernt das Sprechen ja sowieso gerade erst und genießt den großen Vorteil aller mehrsprachig aufwachsenden Kinder, dass es für ihn selbstverständlich ist, mit seinen Eltern auf arabisch zu plappern und mit uns auf deutsch. Sein sich ständig erweiternder Wortschatz existiert einfach doppelt. Der kleine Nachteil an der Sache ist dann allerdings, dass er – je nach Bedarf – auch gerade mal die Sprache nicht versteht, in der man ihm etwas verbietet.
Fortsetzung folgt...