Die Welt gehört in Kinderhände

Wir gehören zur Familie - Teil 2

 

Jetzt gerade versteht er mich überhaupt nicht, als ich ihm sage, er soll auf dem Gerüst nicht noch eine Etage höher klettern, weil das ja gefährlich werden könnte. F.s Warnung rauscht ebenso an ihm vorbei. Für ihn gibt es nur noch das zu bezwingende Klettergerüst auf dem Schulhof und eben auch die bewundernden Blicke einiger älterer Schulkinder, die ihm zusehen, wie er der Gefahr heldenhaft ins Auge sieht. M. der Eroberer.

 

Überhaupt scheint dieses Kind keine Angst zu kennen, auch zuhause klettert er mit Vorliebe auf den Wohnzimmertisch und springt dann einem von uns völlig ohne Vorwarnung in die Arme. Da war schon manchmal eine richtig schnelle Reaktion gefragt, bevor es zu ernsthaften Verletzungen kommt. Neulich erzählte uns D., M. habe ihn gefragt, warum ausgerechnet er immer so viele Schrammen und Beulen habe.

 

Noch während ich daran denke, gibt es plötzlich einen Knall, der sich verdächtig nach Kinderstirn auf Holz anhört, und M. der Eroberer wirft sich seiner Mutter heulend in die Arme. Die sieht mich schulterzuckend an, tröstet ihn und fünf Minuten später ist er schon wieder auf dem Klettergerüst.

 

 

Letztlich sind wir ja froh, dass es so ist. In der Anfangszeit nämlich hatten wir das Gefühl, die Kinder halten sich fast nur in der Wohnung auf. Kein Wunder, dass alle drei da über sämtliche Möbel tobten. Vor allem, weil sie in den ersten Monaten ja auch noch kaum Spielzeug hatten. Mag ja sein, dass in Syrien vieles anders ist, aber dass Kinder viel Bewegung brauchen und dass es für sie kaum etwas Besseres gibt als draußen herumzutoben, ist wohl auf der ganzen Welt so.

 

Darum haben wir uns ja auch bald auf die Suche nach dem nächstgelegenen Spielplatz gemacht und Rainer hat einen Fußball und ein altes Kinderfahrrad mitgebracht, damit wir auf der Straße spielen konnten. Der erste zerbrochene Gartenzwerg bei den Nachbarn ließ dann nicht lange auf sich warten. M. war gegen ihn angetreten und hatte den Kampf eindeutig für sich entschieden. Blöderweise musste er auch noch über seine Heldentat lachen, während es uns unglaublich peinlich war, zumal wir die Nachbarn noch nicht kannten.

 

Zerknirscht klingelte ich und beichtete, was passiert war. Das ältere Ehepaar nahm es zum Glück mit Humor. Vermutlich hatten sie sowas in der Siedlung früher schon häufiger erlebt. Damals, als auch deutsche Kinder noch auf der Straße spielten, statt sich gegenseitig auf Facebook zu mobben. Überhaupt kann ich mich eigentlich nur daran erinnern, dass wir als Kinder im Sommer immer alle gemeinsam auf der Straße gespielt haben. Heute sehe ich bei mir in der Nachbarschaft selten Kinder gemeinsam spielen. Sind die wirklich alle nur auf elektronische Medien angewiesen?

 

Über die Reaktion der Nachbarn bin ich jedenfalls mehr als glücklich, vor allem, weil ich auf keinen Fall möchte, dass M. der Eroberer sich einen Ruf als M. der Zerstörer einhandelt. Aber vielleicht war der Gartenzwerg ja auch ein Geschenk der ungeliebten Schwiegertochter und sie sind klammheimlich froh darüber, dass er endlich nicht mehr den Garten verschandelt.

 

 

Eine noch coolere Reaktion habe ich vor vielen Jahren nur mal bei der Mutter meines guten Freundes O. erlebt. Sie hatten gerade neu gebaut als eines schönen Nachmittags der Fußball des Nachbarsjungen durch gerade erst eingesetzte Panoramafenster krachte. O.s Mutter blieb trotz Baustellenstress und eines nicht unerheblichen Schreckens völlig gefasst und brachte den Ball sogar noch zurück. Auf meine Verwunderung meinte sie nur: „Ach, O. hat früher in der gesamten Nachbarschaft so viele Scheiben zerschossen, eigentlich haben die das andere Panoramafenster auch noch gut.“

 

Mich beeindruckt das bis heute und ich habe mich immer bemüht, bei Kindern ebenso zu reagieren. Meist gelingt es mir auch. Die Belohnung, bei den Kindern beliebter Spielgefährte zu sein ist jedenfalls einiges mehr wert als der möglichen Verärgerung unangemessen laut Luft zu machen.

 

Doch Spielgefährte hin oder her, jetzt unterbrechen wir erst einmal alles, weil S., D. und Rainer aus dem Büro der Rektorin zurückkommen. Alle drei strahlen uns an. „Es spricht gar nichts dagegen, dass S. im nächsten Jahr Schulkind wird“, fasst Rainer zusammen. Die Lehrer haben einen guten Eindruck und die Sprache lerne sie im Kindergarten sowieso ganz schnell. Besser kann es ja gar nicht sein. Nur mein Plan, jetzt nach Hause zu gehen, der geht leider nicht auf. A. und M. haben ja schon auf dem Schulhof gespielt, erklärt mir S. ganz sachlich, sie allerdings noch nicht. Also müssen wir noch bleiben, damit sie die Spielgeräte auch noch austesten kann. Okay, rein logisch und analytisch hat sie ohne jeden Zweifel das Zeug zum Schulkind, das muss ich zugeben.