Ja? Nein? Vielleicht?

Leben in unterschiedlichen Welten - Teil 1

 

Wieder einmal gilt es, Formulare auszufüllen. Diesmal geht es erneut um den Asylantrag, und zwar acht engbedruckte Seiten lang. In einem Brief wurden D. und F. aufgefordert, all die Fragen zu persönlichen Daten, zu ihren Fluchtgründen und vor allem zu genau der Form von Asyl, die sie hier beantragen, ausführlich zu beantworten.

 

Die beiden sind damit natürlich vollkommen überfordert und haben Rainer und mich daher um Hilfe gebeten. Dass wir mit dem Bürokratenchinesisch genauso überfordert sind wie die beiden, konnten sie ja nicht ahnen. Sie gehen offenbar davon aus, dass in Deutschland auch Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller den ganzen Tag nichts anderes tun als Formulare auszufüllen.

 

„In Syrien gibt es nicht so viel Papier“, stellt D. wieder einmal fest. Dort gehe man zum Amt, sage, was man will, legt ein paar Scheine auf den Tisch und bekommt dann das Geforderte. Nun bin ich natürlich gegen jede Form der Korruption und kann das nicht gutheißen, aber wenn ich überlege, wie viele Anträge wir in den letzten Monaten schon ausgefüllt haben, kommen mir Zweifel, ob das nicht auch unter Folter fällt und damit gegen die Menschenrechte verstößt.

 

 

Wenn ich genauer darüber nachdenke, scheinen wir Deutschen unsere Formulare aber tatsächlich zu lieben. Dazu brauche ich mich nur an meine Schulzeit zurück zu erinnern. Damals, in der fünften Klasse bekam ich erstmals ein Formular, auf dem ich etwas ankreuzen musste, was dann – zumindest aus damaliger Sicht – weitreichende Folgen für mein ganz persönliches Leben hatte.

 

Es war nämlich so, dass Tina (oder wie immer sie hieß), mir in der großen Pause einen Zettel zusteckte, auf dem die berühmte Frage stand: „Willst du mit mir gehen? Kreuze an: Ja, Nein, Vielleicht.“ Wenn ich es mir recht überlege, saß ich damals genauso lange vor diesem Zettel wie jetzt vor dem Formular zum Asylantrag für F. und D. Welche Auswirkungen hat es, wenn ich mein Kreuz hier oder dort mache? Tue ich das Richtige? Reißt mir jemand den Kopf ab, wenn ich das Falsche ankreuze?

 

Nun bin ich inzwischen etwas selbstbewusster als damals. Ehrlich gesagt war ich damals ein ziemlicher Schisser und steckte den Zettel erst einmal zwei Tage in den Schulranzen, bevor ich endlich meinen besten Freund um Rat fragte. Natürlich solle ich Ja ankreuzen, riet er mir, schließlich wollten alle Jungs aus der Klasse mit Tina gehen. Blöderweise hatte Tina auch an fast alle Jungs aus der Klasse Zettel verteilt und einige waren einfach mutiger und schneller als ich, so dass sie längst mit einem anderen zusammen war als ich mit meinem Zettel ankam.

 

 

Aus dieser Erfahrung habe ich offenbar gelernt. Jedenfalls frage ich Rainer sofort um Rat und wir beschließen, gleich morgen zur Migrationsberatungsstelle zu gehen und dort nachzuhaken, was wir wie beantworten müssen. Alle Fragen zu persönlichen Daten, bei denen wir uns sicher sind, beantworten wir allerdings noch jetzt. D. und F. sehen uns gespannt und (bilde ich mir zumindest ein) mit ein wenig Bewunderung dabei zu. Ja, gelernt ist gelernt, wer schon in der Schule damit aufwächst, die Frage nach der ersten großen Liebe von einem angekreuzten Feld auf einem Zettel abhängig zu machen, hat vielleicht auch nicht weniger Bürokratie im Alltag verdient.

 

Die Dame bei der Beratungsstelle ist am nächsten Tag völlig begeistert, dass wir schon so vieles ausgefüllt haben. Den Rest würde ohnehin sie machen, sagt sie, meistens kommen Flüchtlinge zu ihr, die gar nicht wissen, was sie mit dem Schreiben vom Amt anstellen sollen. Kein Wunder, in den meisten Herkunftsländern gibt es ja auch keine Zettel mit „Ja, Nein, Vielleicht“, sondern sogar viel häufiger noch arrangierte Ehen, bei denen sich die Eltern um alle Weichenstellungen für die Zukunft kümmern. Das allerdings ist ein anderes Thema, über das ich mich jetzt nicht auslassen will.

 

Fortsetzung folgt...