Unterkunft in der Not - Teil 1
Es verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Bis zu 100 Flüchtlinge sollten in den nächsten Wochen in die Sporthalle einziehen. Überraschend kam die Nachricht jedoch nicht. Wenige Wochen, nachdem klar war, dass Til Schweiger seine Flüchtlingsunterkunft nicht bei uns eröffnen würde, erbat das Land überall von den Kommunen Amtshilfe und es wurden in aller Eile Notunterkünfte eingerichtet. Kein Wunder, denn die bisherigen Erstaufnahmestellen reichten schon lange nicht mehr aus.
Was mich allerdings ärgerte war zum einen die Selbstverständlichkeit, mit der Politiker die Situation als eine plötzlich über uns hereinbrechende Herausforderung darstellten und zum anderen die Berichterstattung in den Medien, die anfangs geradezu himmelhoch jauchzend über die große Hilfsbereitschaft der Deutschen berichtete, um nur wenige Monate später einen völlig anderen Tenor anzuschlagen.
Zugegeben, die große Hilfsbereitschaft war da. Allerdings war sie auch nicht so flächendeckend und überbordend wie manche Journalistenkollegen es darstellten. Das bekam ich direkt bei mir in der Nachbarschaft mit, denn besagte Sporthalle, die zur Notunterkunft werden sollte, liegt direkt bei mir um die Ecke und ich parke meist mein Auto auf dem dazugehörigen Parkplatz.
„Hast du schön gehört...“, raunten sich die Nachbarn zu, meist erst einmal abwartend, wie sich das Gegenüber dann zum Thema Flüchtlinge äußert. So richtig hatte sich am Anfang noch kein Meinung durchgesetzt und viele waren erst einmal abwartend. Irgendwann hörte ich dann nur eine Nachbarin zur anderen sagen: „Na, wenn die jetzt alle kommen... also ich habe jedenfalls schon mal einen Knüppel hinter die Tür gestellt.“
Dann verbreitete sich das Gerücht, der Landkreis habe von alldem nichts gewusst und müsse die Sporthalle nun in aller Eile zweckentfremden und vor allem den Schulen und Vereinen verbieten, dort ihren Sportunterricht bzw. ihr Training zu machen. Gut, wenn in einer Halle Feldbetten aufgebaut werden, weil dort Menschen übernachten sollen, lässt sich nur schwer Fußball spielen. Dennoch missfiel mir von Anfang an der Unterton, mit dem diese Geschichte weitererzählt wurde. Und eine völlige Überraschung der Verantwortlichen beim Landkreis legte ja angesichts zahlreicher Notunterkünfte in Nachbarlandkreisen die Vermutung nahe, wir leben hier hinterm Mond.
Noch einen Tag später sprach mich dann eine Nachbarin direkt an, ob ich denn als Journalist nicht schon Genaueres wisse. Wusste ich nicht. Sie offenbar schon. „Das sind ja auch alles junge Männer und die vergewaltigen ja auch so viele Frauen“, informierte sie mich. Okay, das wusste ich als Journalist allerdings tatsächlich noch nicht. „Jedenfalls hab ich Angst und werde in den nächsten Wochen bestimmt nicht mehr alleine rausgehen“, setzte sie noch hinzu.
Es klingt fies und ist politisch absolut unkorrekt. Doch in diesem Augenblick konnte ich es mir nicht verkneifen, an ihrem nicht eben schlanken, dafür aber in einen engen knallbunten Jogginganzug gepressten Körper herunterzugucken und zu denken: „Mädel, wenn sich jemand diese Sorge nicht machen muss, dann du.“
Zum Glück konnte ich mir zumindest verkneifen, es laut auszusprechen. Dafür setzte ich mich daraufhin sofort an den Computer und schrieb einen Presseartikel mit dem sehr persönlichen Titel „Wir bekommen neue Nachbarn“. Darin rollte ich das Thema sehr persönlich auf und informierte nicht nur über die Sachlage, sondern auch über das, was ich von den Anwohnern mitbekam. „Einige waren skeptisch, was es für uns bedeutet, manche plapperten all jene Parolen nach, die sie irgendwo aufgeschnappt hatten“, schrieb ich. „Viel Angst vor dem Fremden schwang da mit.“
Allerdings auch, dass ich mir stattdessen viel mehr Angst um die Menschen machte, die da kommen sollten. Würden die in einer Turnhalle menschenwürdig untergebracht sein? Wie lange konnte man das jemandem zumuten, der gerade vor dem Krieg geflohen war und vielleicht nahe Menschen zurückgelassen hatte? Dass ich mich all das wirklich fragte, wurde mir so richtig eigentlich erst in dem Moment bewusst als ich den Text verfasste. Daher hieß es dann weiter: „Jetzt werden einige Flüchtlinge nebenan leben. Bin ich da nicht gefordert, Hilfe zu leisten? Schritte auf sie zuzugehen? Ihnen beim Start in der Fremde Wege aufzuzeigen? Zumindest habe ich einmal gelernt, dass man sich Menschen und erst recht Nachbarn gegenüber so verhält. Offen auf jeden zugehen, einander kennenlernen, vielleicht zu Freunden werden. So sollte es doch sein, oder nicht?“
Tatsächlich war das die Zeit, in der ich mir zum ersten Mal Gedanken darüber machte, wie ich selbst helfen könnte. Nicht nur durch gutgemeinte Pressetexte, sondern mit tatkräftiger Unterstützung an Ecken und Enden, wo es dringend nötig ist. Wie so vieles schob ich den Impuls, endlich aktiv zu werden allerdings auch dann noch weiter hinaus. Bis schließlich Rainer mich fragte, ob wir uns nicht um eine Flüchtlingsfamilie kümmern wollen. Aber das ist jetzt gar nicht die Geschichte, die ich erzählen wollte.
Fortsetzung folgt...