Verloren im Konsumtempel - Teil 1
Seit einigen Wochen hat D. nun endlich seinen Führerschein. Immer wieder lädt er uns ein, mal zum Döneressen oder ins Grüne zu fahren. Er macht das, weil er sich bedanken will für die unzähligen Fahrten, die Rainer und ich für ihn und seine Familie gemacht haben. Darum wagen wir es auch nur selten, abzusagen und genießen einfach die gemeinsamen Ausflüge. Im Moment brennt ihm jedoch ein größerer Trip auf den Nägeln. Nein, eigentlich nicht ihm, wie ich heraushöre, sondern vor allem F. Sie möchte unbedingt mal nach Braunschweig, mal shoppen in der großen Stadt sozusagen.
Natürlich will D. gerne mit ihr fahren, nur will er mich gerne dabei haben, weil er, wie er sagt, sich dort ja nicht auskennt. Kann ich irgendwie gut nachvollziehen. Als ich meinen Führerschein ganz frisch hatte, fuhr ich auch gerne bei uns durch die Gegend, doch wenn es mal in die nächstgrößere Stadt ging, war ich froh, wenn ich einen ortskundigen Beifahrer. Allerdings lernte ich schon bald, dass das auf keinen Fall meine Eltern sein durften. Deren Genörgel an meinem Fahrstil, diese ständige Besserwisserei in wirklich jeder Situation, das war schon bald schlimmer als die Zeit davor, als ich noch ständig betteln musste, wenn ich in die Disco oder wohin auch immer gefahren werden wollte.
Also sage ich D. zu und nehme mir fest vor, mit keinem Wort seinen Fahrstil zu kritisieren und mich echt darauf zu beschränken, sein lebendiges Navi zu sein. Navi zunächst in die Innenstadt und dort dann zu den angesagten Geschäften, wie er mir im nächsten Satz unmissverständlich klar macht. F. möchte durchaus für sich selber schauen, vor allem aber braucht sie auch Babyklamotten und Wintersachen für die Kinder. Modisch, also nicht wie aus der Kleiderkammer, aber eben auch nicht zu teuer. Na super. Als Shoppingberater bin ich natürlich genau der Richtige.
Am nächsten Samstag geht es los. Gleich früh, bevor es auf der Autobahn und in der Stadt möglicherweise zu voll wird. Zuerst fällt mir einmal auf, dass es an D.s Fahrstil überhaupt nichts zu kritisieren gäbe. Er fährt nicht zu langsam, nicht zu schnell, umsichtig und in jedem Fall so, dass ich ohne weiteres auch beruhigt einschlafen könnte. Ganz anders F. und die Mädchen. S. und A. sind mindestens so aufgeregt wie die Kandidatinnen bei Shopping Queen, nur ist das Budget bei uns vermutlich etwas geringer als in der Fernsehshow, während die Zeit allerdings deutlich länger bemessen sein könnte.
In Braunschweig lotse ich D. ruhig durch die Innenstadt und bin ein wenig erstaunt, wie treu er jeder meiner ansagen Folge leistet. Wenn ich mich an die ersten Fahrten mit meinen Eltern auf dem Beifahrersitz erinnere, dann war das damals aber ganz anders. Am Ende lotse ich D. ins Parkhaus, die enge sich nach oben schraubende Auffahrt hinauf und dann in die erste freie Parklücke. Erst beim Aussteigen bemerke ich seine Nervosität, gepaart mit einer gewissen Erleichterung. „Ich bin ins Parkhaus gefahren. Ganz alleine“, sagt er mehr zu sich als zu uns anderen und strahlt übers ganze Gesicht.
Für F. und die Kinder gibt es jetzt kein Halten mehr. Sie wollen endlich los. Vor allem M. ist genervt vom langen Stillsitzen und wir müssen ihn erst einmal davon abhalten, jetzt zwischen den parkenden Autos Verstecken zu spielen. Blöde Erwachsene. Dabei wäre das hier der ideale Ort dafür. Und die paar Autos, die hier herumkurven, die werden ja wohl für ihn bremsen.
Ich bremse jetzt jedenfalls nicht mehr, sondern geleite alle zum Fahrstuhl und dann direkt ins Innere des Konsumtempels namens Shopping Mall. In diesem Fall sogar mit dem wohlklingenden Namen Schlossarkaden und auch noch hinter historischer Fassade, womit wohl wieder einmal klar ist, wie Wertigkeiten in unserem Land verteilt sind. Während ich noch erläutere, welche Filialen der großen Ketten wo zu finden sind, stellt F. deutlich fest, dass ihr all das hier ein wenig zu viel Großstadt auf einmal ist. Ob es denn in der Stadt auch ganz normale Geschäfte gebe, will sie wissen und wird mir damit wieder einmal noch ein kleines bisschen sympathischer.
Also lassen wir das unpersönliche Center erst einmal hinter uns und machen uns auf den Weg in die Altstadt. Die Kinder sind völlig fasziniert von all dem Menschen, Autos und Straßenbahnen, die es so in Osterode nun einmal nicht gibt. D. bewundert hingegen das Rathaus und den Dom und hat jetzt tatsächlich erst einmal Augen für die Schönheit der Stadt. F. geht es ähnlich, sie beschließt kurzerhand, so bald wie möglich nach Braunschweig zu ziehen. Für sie spielt die Stadt wohl im Moment in einer Liga mit Paris oder Florenz, so dass auch ich beschließe, unseren Trip einfach in vollen Zügen zu genießen.
Während wir durch die Fußgängerzone bummeln, uns interessiert die Schaufenster ansehen und selbst die Kinder alle drei völlig entspannt jeder eine Hand eines Erwachsenen ergreifen, drängt sich mir plötzlich die Frage auf, was wohl wäre, wenn sie damals nicht aus Syrien geflohen wären. Ich weiß es nicht, will es vielleicht auch gar nicht wissen, aber ganz sicher wären F. und D. nicht entspannt mit ihren Kindern in die nächste Stadt allein ins Parkhaus und zum Shoppen gefahren. Manchmal sind es vielleicht doch die kleinen Dinge, die wir gar nicht genug schätzen können.
Fortsetzung folgt...