Erinnerungen an die Notunterkunft - Teil 2
Kennen wir die Menschen aus Syrien, aus Afghanistan, aus Eritrea oder woher auch immer inzwischen gut genug? Sicher nicht, denn soweit ich es beobachte, bleiben sie immer noch überwiegend unter sich, zumindest die Älteren. Haben sich etwa tatsächlich jene Befürchtungen bestätigt, dass die Flüchtlinge nicht zu uns passen und es nur auf unsere Sozialsysteme abgesehen haben? Wenn ich bedenke, wie viele mir auf diesem Fest erzählten, dass sie jetzt endlich arbeiten und nicht mehr auf den Staat angewiesen sind, bezweifle ich auch das. Eine junge Frau wagte sogar zu sagen: „Was für ein Blödsinn, wir sind es doch, die in eurer überalterten Gesellschaft in die Sozialsysteme einzahlen.“ Recht hat sie.
Kann es also sein, dass wir die Willkommenskultur, die wir hier hatten, uns Stück für Stück haben vergiften lassen? Wenn ich mir anhöre, wie öffentliche Debatten geführt werden, dann möchte ich das bestätigen. Inzwischen habe ich häufig das Gefühl, wir alle rechtfertigen uns nur noch dafür, dass wir damals Menschlichkeit und Nächstenliebe an den Tag gelegt haben. Wir lassen uns immer wieder auf die Argumentationen der Rechten ein und betonen hilflos, dass ja nicht alle Flüchtlinge nur des Geldes wegen hier sind, kriminell werden und sich nicht integrieren lassen wollen. Seltsam.
Der Film führt mir dies jedenfalls deutlich vor Augen. Damals war es anders, so scheint es mir, ich bin mir nicht sicher, ob die Mehrheit heute noch einmal so reagieren würde wie vor vier Jahren. Und wenn ich mir viele Reaktionen auf Ertrinkende im Mittelmeer und über die Schuld von Lebensrettern ansehe, die als Schleuser hingestellt werden, dann bestätigt das mein Gefühl leider umso mehr.
Etwa 1700 Einwohner hat St. Andreasberg, berichtete der Film, nun waren auf einen Schlag doppelt so viele Menschen im Ort. Selbstverständlich waren da viele am Anfang skeptisch, doch als die Geflüchteten schließlich fortzogen, vermissten viele sie auch als gute Kunden in den wenigen Geschäften, die es noch gibt. Am meisten vermissten sie jedoch die Mitarbeiter, denen sie in dieser Zeit eng ans Herz gewachsen waren.
Im Film werden immer wieder Kamerafahrten durch leere Gänge gezeigt, dazu in Rückblenden Fotos von gemeinsamen Aktionen und Festen, so dass die Trostlosigkeit dieser letzten Tage tatsächlich greifbar wird. Mit viel Engagement wurde Ordnung ins Chaos gebracht, all die individuellen Dramen aufgelöst, Freundschaften entstanden, Kinder wurden geboren und dann war all das plötzlich wieder vorbei.
Lalit Vachani ist ein aus Neu Delhi stammender Dokumentarfilmer, der international an verschiedenen Universitäten, so auch in Göttingen, tätig war und ist, wo er zu religiöser Diversität forscht und Seminare zum politischen Dokumentarfilm unterrichtet. Ursprünglich, so erzählte er, wollte er in St. Andreasberg über die Arbeitsabläufe und das Leben in der Erstaufnahmeeinrichtung berichten, doch bis alle Drehgenehmigungen eingeholt waren, stand dort dann schon die Schließung an. Somit wurde es ein völlig anderer Film als ursprünglich geplant.
Durch die Bilder, die an einen Lost Place denken lassen, ist es ein sehr stiller Film, doch einer, der eine große und wichtige Geschichte erzählt. Auf eine Weise zeigt er ein sterbendes Dorf, das von der Zuwanderung hätte profitieren können, ein anderes im Film geäußertes Fazit lautet: „Jetzt, wo wir die Infrastruktur aufgebaut haben, um Menschen zu helfen, schottet sich Europa ab.“
In der anschließenden Diskussion mit den Zuschauern beantworteten Vachani und Becker viele Fragen zum Film, es kam aber auch zum allgemeinen Austausch über die Zeit in der Notunterkunft Rehberg-Klinik. Eine Bewohnerin berichtete von ihren Erfahrungen, ebenso eine Mitarbeiterin und beide stellten fest, dass es eine schöne und wertvolle Zeit für alle Beteiligten war. Genau das, so Lalit Vachani, habe ihn beim Dreh am meisten beeindruckt, wie sehr die Geflüchteten das Leben der Menschen berührt haben und wie problemlos und schnell alle zusammenwuchsen, weil die Situation es eben erforderte.
Geht das wirklich nur im Kleinen und ist hochgerechnet auf unseren Staat vielleicht unmöglich? Können wir nur dann Menschen in unser Herz schließen, wenn wir persönlichen Kontakt zu ihnen haben? Aber müssen wir jemanden überhaupt persönlich in unser Herz schließen, um menschlich und verantwortungsvoll zu handeln? Reicht es nicht aus, dass wir uns klar machen, dass wir nun einmal zu jenem Teil der Welt gehören, wo es alles im Überfluss gibt, und viele dieser Menschen aus Teilen kommen, die letztlich für unseren Wohlstand ausgebeutet werden? Kann es nicht eine Bereicherung sein, wenn wir endlich dieses „Die könnten uns etwas wegnehmen“ aufgeben und gemeinsam anpacken, um die überalterte Gesellschaft in diesem Land neu zu definieren?