Chaos oder Chance?

Jetzt stellen wir die Weichen für die Zeit nach der Corona-Krise - Teil 2

 

Apropos wieder normal: im Moment habe ich das Gefühl, wir haben wieder eine Zweiteilung der Gesellschaft, und zwar in jene, die nach noch mehr Lockerungen schreien und jene, die zur Vorsicht mahnen, damit in ein paar Wochen nicht alles von vorne beginnt. Auch hier sind die Stimmen an den Rändern wieder am lautesten, meiner Wahrnehmung nach insbesondere von denjenigen, die behaupten, Bill Gates wolle die ganze Welt impfen, um sie unter seine Kontrolle zu bringen und damit die Eine-Welt-Regierung der Eliten etablieren.

 

Sicher, das sind Stimmen, die die große Mehrheit als Verschwörungstheoretiker abtut. Doch im Netz sind sie laut wie nie, verknüpfen diese steile These mit diversen rechten Ideologien und haben durchaus die Kraft, unsere ohnehin gespaltene Gesellschaft noch weiter auseinander zu bringen. Immerhin eine Gesellschaft, die ohnehin verunsichert ist, in einer Ausnahmesituation und ja durchaus vor einer realen wirtschaftlichen Bedrohung unbekannten Ausmaßes steht. Die Auswirkungen der Krise werden uns noch viele Jahre, vielleicht Jahrzehnte beschäftigen, der Nährboden für all diejenigen, die das System umkrempeln wollen, ist als fruchtbar wie nie.

 

Dementsprechend habe ich bei vielen auch das Gefühl, ihnen geht es nicht primär um ihre Grundrechte, sondern vielmehr darum, sich jetzt einer verunsicherten breiten Masse zu präsentieren, deren Ängste zu schüren und am Ende daraus Profit zu schlagen. Sei es rein finanziell, etwas durch verkaufte Kochbücher oder Musik mit schwurbeligen Texten oder was auch immer, sei es durch Einfluss, durch eine Medienblase abseits des sogenannten Mainstreams, die ja im Grunde seit Angela Merkels „Wir schaffen das“ schon existiert und für viele durchaus einträglich ist.

 

 

Die Spaltung der Gesellschaft ist also nichts Neues, neu ist nur das Ausmaß, so scheint es mir. Diese im Netz als „Covidioten“ bezeichneten Demonstranten erreichen plötzlich nicht nur ihre üblichen rechten Bubbles, sondern viel mehr Menschen – und sie prägen diese nicht nur in Bezug auf ihre politische und gesellschaftliche Meinung, sondern sähen großes Misstrauen in die Wissenschaft und damit in alles das, was eben nicht Fake News, sondern bewiesener und vor allem beweisbarer Fakt ist.

 

Darin sehe ich die große Gefahr, die diese Bewegungen bergen. Denn ganz ehrlich, wenn ich ein paar Wochen lang mit Mundschutz zum Einkaufen gehen muss, schränkt das meine Grundrechte nicht wirklich ein, sondern sorgt am Ende höchstens für Segelohren. Wenn aber unserer Bildung die Glaubhaftigkeit entzogen wird, dann kann das eine Gesellschaft langfristig ins Chaos stürzen.

 

Damit will ich übrigens noch lange nicht alles gutheißen, was an politischen Maßnahmen derzeit durchgedrückt wird. Wenn beispielsweise Selbstständige nur in ihren Betriebskosten unterstützt werden, die sich bei mir im Grunde auf einen Kugelschreiber und ein Blatt Papier belaufen, während die Autoindustrie großkotzig verkünden darf, dass eine Kürzung der diesjährigen Boni für die Aktionäre das allerletzte Mittel wäre, dann läuft da einiges schief, was meiner Meinung nach noch viel mehr angeprangert werden müsste.

 

Erschreckend fand ich auch, wie schnell unser wunderbares vereintes Europa über den Haufen geschmissen wurde, die Nationalgrenzen dicht gemacht wurden, wohlgemerkt bei einer weltweiten Pandemie und einem Virus, das vermutlich nicht erst einen Reisepass beantragt. Bis heute finde ich erschreckend, dass international kaum zusammengearbeitet wird, jeder plötzlich wieder mit sich selbst beschäftigt ist.

 

Immerhin ja so sehr mit sich selbst und der Krise beschäftigt, dass an der europäischen Außengrenze nachweislich ein Flüchtling aus Pakistan erschossen wurde und der mediale wie gesellschaftliche Aufschrei über diese Art der Grenzsicherung weitgehend ausbleibt. Ebenso könnte die Situation in den großen und medizinisch kaum darauf vorbereiteten Flüchtlingslagern zur kompletten Katastrophe werden, wenn das Virus dort richtig um sich greift. Und auf dem Mittelmeer ertrinken prozentual gesehen so viele Menschen wie nie zuvor, weil wir uns weder in der Lage sehen, zu helfen, geschweige denn dafür überhaupt ein offenes Ohr zu haben.

 

 

 

Das sind die Werte, die ich momentan bedroht sehe, für die aber kaum jemand seine Stimme erhebt. Verantwortung, weil wir nun mal zu den Reichsten dieser Welt gehören, Hilfsbereitschaft, weil die uns nicht arm macht, anderen aber das Leben rettet, und Nächstenliebe, weil wir doch angeblich ein Land christlicher Werte sind. All das vermisse ich in den letzten Wochen stark. Zugunsten eines seltsamen Struggle of the Fittest, der mir ehrlich gesagt Angst macht.

 

Dabei sind all die guten Ansätze im Kleinen, im Zwischenmenschlichen ja da. Vielleicht sollten wir die Corona-Krise jetzt einfach als Chance begreifen, um uns unserer Werte bewusst zu werden und um ganz aktiv zu entscheiden, welche Rolle wir als diejenigen, die im schlimmsten Fall der Fälle vermutlich am längsten überleben würden, in der Welt und im Leben spielen wollen.