Nur ein Katzensprung vom Miteinander zum Faschismus?
„I have a dream“, rief Martin Luther King vor 60 Jahren der Menge in Washington zu. Den Traum, dass eines Tages Söhne früherer Sklaven und Söhne früherer Sklavenhalter gemeinsam am Tisch der Brüderschaft sitzen werden. Den Traum, dass alle Kinder Gottes, Schwarze und Weiße, Juden und Heiden, Protestanten und Katholiken, sich die Hände reichen. Seine Rede bewegte damals die Menschen, gilt heute als ein Wendepunkt der Geschichte.
Vorausgegangen war eine strikte Trennung zwischen Schwarzen und Weißen in den USA, unter anderem auch in öffentlichen Bussen. Rosa Parks, eine farbige Bürgerrechtlerin, hatte sich einige Jahre
zuvor geweigert, im Bus von einem Platz „nur für Weiße“ aufzustehen. Dieser Akt des Protests führte zu weiterem Aufbegehren gegen die Rassentrennung und schließlich zu jener Bewegung, die Martin
Luther King entscheidend mitprägte. Nach Gesprächen mit Präsident Kennedy fuhren am 28. August 1963 schwarze wie weiße Bürger*innen in die Hauptstadt, um ihren Forderungen nach Gleichbehandlung
Nachdruck zu verleihen. Bob Dylan, Joan Baez, Mahalia Jackson und andere traten auf und eben auch Martin Luther King, der dort seine Rede hielt.
Kürzlich war ich in einem Gottesdienst, der an dieses Aufbegehren gegen Rassismus und an Pastor Martin Luther King erinnern sollte. In St. Sixti in Northeim trat ein Chor auf, der Gospels aus dem
King-Musical sang, die Predigt war von Superintendent Jan von Lingen und Mitgliedern der Gemeinde in verschiedenen Sprechrollen gestaltet. Eigentlich ja ein gewichtiges Thema, dank der Musik aber
locker präsentiert, viele in der vollbesetzten Kirche klatschten mit.
Jan von Lingen rollte die historischen Entwicklungen von damals bis hin zum Friedensnobelpreis für King und schließlich zu seiner Ermordung noch einmal anschaulich auf, schlug dann einen nicht minder ernsten Bogen zur Gegenwart. „Martin Luther King hat uns eine Aufgabe überlassen“, sagte er. Als Christen dürften wir bei Problemen wie Rassismus nicht wegsehen, müssten uns einmischen.
Er wurde nicht konkreter, doch zwischen den Zeilen war sehr deutlich, dass er sich auf politische Entwicklungen jetzt gerade hier bei uns bezog. Eine Aufgabe also, die Pflicht, mich gegen
Diskriminierung und Ausgrenzung zu stellen, wenn ich mich denn als Christ sehe. Ehrlich gesagt sprach er mir damit aus dem Herzen und seine Worte haben mich noch lange bewegt.
Alle Kinder Gottes sollen sich die Hände reichen. So einfach ist es im Grunde. Da ist kein Platz für Rassismus, nicht mal Platz für Nationalismus. Auch nicht für hetzerischen Populismus, wie er
bei uns gerade massiv um sich greift. Aber offenbar ist es nur ein Katzensprung, all die guten und richtigen Entwicklungen der vergangenen sechzig Jahre wieder rückgängig zu machen.
Dabei muss ich zum Beispiel an Nordhausen denken. Dort fand gestern die Wahl des Oberbürgermeisters statt, bei der der Kandidat der AfD mit 42,1 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis vorm parteilosen Amtsinhaber mit gerade mal 23,7 Prozent einholte. In einer Stadt mit 40 000 Einwohnern stimmt also knapp die Hälfte der Wähler für den Kandidaten einer rechten Partei, die sich mehr und mehr radikalisiert. Das finde ich durchaus besorgniserregend, auch wenn noch eine Stichwahl folgt.
Wenn wir in dieser Woche mit unserem Mordsharz-Festival in Nordhausen zu Gast sind, werde ich das wohl kaum aus dem Kopf bekommen. Vor einigen Jahren hat sich Zoë Beck beim Festival – es war kurz
vor einer Bundestagswahl – deutlich politisch geäußert, indem sie dazu aufrief, doch bitte demokratische Parteien zu wählen. Daraufhin beschwerte sich ein Paar die Veranstaltung, weil sie es
gewagt hatte, eine Wahlempfehlung auszusprechen.
Zoë ist diesmal leider nicht dabei. Dafür aber wird unter anderem Thomas Raab in Nordhausen lesen. Aus „Peter kommt später“, einem humorvollen Krimi, in dem eine alte Dame - „die alte Huber“ – in
der österreichischen Provinz ermittelt. Trotz des Humors hat das Buch auch seine ernsten Momente und besonders eine Szene, von der ich mir wünschte, der Autor würde sie lesen.
Dort heißt es: „Seine eigene Nationalität so stolz umherzutragen, so unübersehbar beflaggt durch die Gegend zu spazieren, ist ja in ihren Augen generell kein Aushängeschild sonderlicher Klugheit
oder guten Stils. Auch hier gelten die drei Steigerungsstufen: Positiv – Patriotismus, Komparativ – Nationalismus, Superlativ – Faschismus. Wobei die alte Huber selbst dem Patriotismus nichts
Positives abgewinnen kann. Von der Heimatverbundenheit zum Nationalstolz, von der stolzen Nation zur gekränkten, wütenden ist es nur ein Katzensprung.“