Wer will die Welt brennen sehen?

Buchtipp: Marc-Uwe Kling - Views

 

Damals, als ich noch im Studium war, begann ich meine spätere journalistische Laufbahn mit Literaturrezensionen. Dem bin ich bis heute treu gebieben, lese nach wie vor viel und veröffentliche auch relativ regelmäßig Rezensionen. Weil ich Literatur nun einmal für unglaublich wichtig halte. Für die Bildung, für die Kreativität und eben auch für die Gesellschaft. Was also spricht dagegen, auch hier ab und zu Bücher vorzustellen, die ich für besonders lesenswert halte?

 

In den sozialen Netzwerken geht ein Video viral, das eine brutale Vergewaltigung zeigt. Das Opfer, ein junges Mädchen aus dem Harz, das kurz zuvor spurlos verschwunden ist. Die Täter, drei Männer mit dunkler Hautfarbe, also offenbar Migranten. Kurzum: gesellschaftlicher Sprengstoff.


Dies ist die Ausgangslage für Marc-Uwe Klings „Views“, ein Buch, das laut Cover nicht etwa ein Krimi oder Thriller, sondern schlicht ein Roman ist. Trotzdem ist es nach den humoristisch-skurrilen „Känguru-Chroniken“, der Science-Fiction-Saga „Qualityland“ und Ausflügen in weitere literarische Genres des zu großer Popularität gelangten Kleinkünstlers wieder einmal etwas ganz anderes. Oder?

 

 

Nun ja, das Känguru ist kommunistisch und entgegen seiner biologischen Natur ziemlich bissig, die Zukunft in Qualityland ebenso Dystopie wie Satire auf unsere Gegenwart und auch sonst ist Marc-Uwe Kling in seinem Schaffen nicht eben unpolitisch. So ist auch „Views“  in erster Linie ein Gesellschaftsroman.


Die Medien und vor allem rechte Gruppierungen stürzen sich auf den Fall, verbreiten eigene Narrative und nutzen die stockenden Ermittlungen des BKA für ihre Propaganda. Es tauchen weitere Videos auf, die mehr oder weniger direkt zur Lynchjustiz aufrufen. Auch die leitende Ermittlerin Yasira gerät wegen ihrer familiären Wurzeln im Libanon in die Schusslinie einiger Rassisten, die sich als „Aktiver Heimatschutz“ formieren.


Während Yasira und ihr Kollege noch von Berlin in den idyllischen Harz fahren, um nach dem verschwundenen Mädchen zu fahnden, lässt die erste Leiche, vermeintlich einer der Täter, nicht lange auf sich warten. Seine Hinrichtung natürlich in einem Video dokumentiert, das ebenfalls viral geht.

 

 

„Wie konnte alles in so kurzer Zeit eskalieren?“, lässt Kling seine Protagonistin grübeln, „Aber die Antwort ist ganz einfach. Es ist nicht in kurzer Zeit eskaliert. Im Gegenteil: Seit Jahrzehnten beobachten alle, wie die Gesellschaft immer mehr Risse bekommt, und keiner kittet sie. Da darf man sich nicht wundern, wenn sie schließlich zerbricht.“


Ja, es ist eine düstere Abrechnung mit der Gegenwart. Oder doch nur eine Bestandsaufnahme? Zum Glück hat sich Marc-Uwe Kling nach wie vor dem Humor nicht ganz abgewandt und so lässt er Yasira und ihr Team oft zynische Witze reißen, die keinesfalls aufgesetzt wirken, sondern der Geschichte eine Leichtigkeit geben, sie in gewisser Weise erträglich macht.


Und wie sieht es mit dem Fall aus? Nun, irgendwann fragen sich die Ermittler, ob all die Unruhen und die Spirale der Gewalt, die das Video ausgelöst hat, nicht nur Begleiterscheinungen sind, sondern sogar das eigentliche Motiv. Wollte jemand die Welt brennen sehen?


Nein, das ist an dieser Stelle kein Spoiler, denn eine weitere Wendung bringt zum Ende hin noch einmal ganz andere Aspekte ins Spiel, ebenfalls spannend, ebenfalls hoch aktuell, ebenfalls bitterböse. Aber dazu wird an dieser Stelle nichts verraten, denn es lohnt sich in jedem Fall, diesen Roman zu lesen.